Eine europäische Biografie

Kategorie: Biografie (Seite 1 von 2)

1968: Zodiak, Musikgeschichte und eine Pleite

Das ehemalige Schaubühnen-Gebäude am Halleschen Ufer 2017. Foto: Ulrich Horb

Ich verdiene seit langem wieder mal richtig regelmäßig Geld. Und bald will ich Millionär werden. Dazu will ich einen riesigen Musik-Schuppen aufmachen, wie es sie in New York gibt, Live-Musik, langhaarige Typen.

Mit einem älteren Kneipen-Besitzer aus Kreuzberg, Leopold Unger, genannt Poldi, der die Künstlerkneipe „Malkasten“ betreibt, mache ich das Zodiak auf. Wir pumpen uns dazu Geld bei der Bank. Ich habe damals eine mystische Phase, lese die Kabbala und alles über den Hexenkult, auch über Astrologie und da bin ich auf Zodiak gestoßen, die Tierkreiszeichen. Passt gut zu Belladonna oder Mescalin und natürlich zu diesem herrlichen mexikanischen Gras. Aber vielleicht sind es auch die Musiker, die zur Namensgebung beitragen, die mit ihren elektronischen Geräten für kosmische Klänge sorgen und im „Zodiak Free Arts Lab“ zusammenkommen, Musiker wie  Conrad Schnitzler, oder Hans-Joachim Roedelius. Weiterlesen

Kurzer Lebenslauf

1941                           10.4.1941 geboren in Wolhynien, heute Ukraine, als Sohn eines deutschen Bauern. Die Familie hat dort mit anderen Kolonisten über 100 Jahre gelebt. Flucht vor der Roten Armee.

1946                            eingeschult in Sachsen-Anhalt, sowjetische Besatzungs-Zone.

1950                            Flucht in die Bundesrepublik. Ich war 9 Jahre alt.

1961                           Abitur in Unna, Westfalen, Studium München

1963                           Freie Universität Berlin, Studium Philosophie. Kein Geld von zu Hause, kein Stipendium, 2-3 Tage in der Woche gearbeitet bei Heinzelmännchen (Studenten-Dienst für Stunden-Jobs), u.a. als Putzmann bei der amerikanischen Armee. 1 Semester ausgesetzt, Arbeit als Eisenflechter auf dem Bau, u.a. beim Bau des Springerhauses beim Gleitbeton. Mit den Bauarbeitern durch die Kneipen gezogen am  Stuttgarter Platz.

1964                            per Anhalter nach Schweden, als Tellerwäscher gearbeitet. Das war mein Urlaub.

1965                            Fahrt nach Schweden, Tellerwäscher in Strömstad.   In Berlin bei der Disconto-Bank gearbeitet (später Deutsche Bank), in der Abteilung für  notleidende Kredite. Zu meiner Arbeit gehörte, morgens in den Zeitungen nachzusehen,  welche unserer Kunden sich erhängt hatten im Grunewald. Abschiedsbriefe abheften.

1966                            In Hamburg gearbeitet bei Pan-Foto. Gehörte Günter Zint, den ich aus München kannte.   Ich habe nicht fotografiert, sondern Innendienst gemacht.  Erhalten ist eine Rechnung: John Lennons Haare für die Bravo. Lennon hatte Film-Dreharbeiten in der Lüneburger Heide. Der Friseur hat uns die Haare verkauft. Das war mein Einstieg in die Beat-Revolution.

1967                            Für Danny die Teestube aufgebaut, gegenüber Kempinski-Hotel.  Es gab ein Dutzend Teesorten, Haschisch musste jeder selber mitbringen, auch Schall-platten. Renner war: Yellow Submarine von den Beatles.  Zum ersten Mal richtig Geld verdient.

1968                           Das Zodiac gegründet in Kreuzberg. Es sollte ein großer Rock-Schuppen werden nach  New Yorker Vorbild. Aufgetreten ist u.a. Tangerine Dream. Über dem Laden war die Schaubühne, ein Theater. Alle Prozesse verloren. Die Kneipe durfte erst öffnen, wenn der Goethe fertig war. Große Pleite, sehr viele Schulden. Mein Kompagnon ebenfalls.  Er hat sich das Leben genommen.

Ab 1969                    Schwarz gearbeitet als Fenster-Putzer in Neubauten. Drogenzeit in der Prinzenstraße in  Kreuzberg. Im Kachelofen lag immer ein Paket „Roter Libanese“ für die Gäste.

1972                            war ich ganz unten. Cocain und Amphetamine. Das Mietshaus wurde  abgerissen. Ich  zog in den 2. Hinterhof am Erkelenzdamm. Plumps-Klo eine halbe Treppe tiefer. Ich beschloss, normal zu werden und habe wieder gelernt, Alkohol zu trinken,            weil man mit Haschisch nicht konkurrenzfähig ist in unserer Alkohol-Welt. Bald hatte ich die erste Kneipen-Schlägerei. Ich wurde also langsam normal.

1973                            Der Gerichtsvollzieher empfahl mir, einen Job zu suchen, bei dem ich so wenig verdiente,   dass er nicht immer wieder kommen musste. Ich wurde Hilfs-Arbeiter in einer Fabrik für   Verkehrsschilder und nahm mir vor, ganz brav zu sein und bürgerlich. Nach einem halben Jahr habe ich einen Betriebsrat gegründet und 2 Jahre lang gegen den   Unternehmer Prozesse geführt. Dann flog ich raus.

1976                            Ich beschloss Fotograf zu werden. Dafür braucht man keine Lehre und nur wenig Geld. Der Spruch war: ein Presse-Fotograf ist jemand, der 2 Kameras hat und eine Freundin, die die  Miete verdient. Die hatte ich. Es war also eine solide Firmengründung.   Die ersten Fotos habe ich in der Badewanne entwickelt, die Tür mit einer schwarzen Decke abgehängt. Das war meine Dunkelkammer.

1977                            Im Bezirksamt Kreuzberg habe ich den Pressesprecher Amonat kennen gelernt. Wir hatten  ähnliche politische Ansichten und er gab mir Termine. Ich brachte Fotos unter in der  Springerpresse von seinem Chef, dem Bürgermeister. Das war mein Einstieg in die politische Fotografie.

1979                            Erste große Arbeit: der SPD-Bundeskongress in Berlin. Ich habe mehr als 100 Filme verknipst, mit einigem Erfolg. Die Politiker waren zufrieden und die Zeitungen auch.

1979                           Ich habe die „Berliner Zeitung“ abonniert. Sie wurde mir jedem Tag nach West-Berlin  geschickt. Ich brauchte Informationen, weil ich zu den Bildern Artikel schreiben musste, damit die Redakteure überhaupt wussten, worum es geht. In der „Berliner Zeitung“ stand nicht viel, nur das offizielle Zeugs.  Mehr stand in den DDR-Bezirks-Zeitungen, aber die durfte ein Westler nicht kaufen. Es gab einen Ausweg. Das Gesamtdeutsche Ministerium hatte am Fehrbelliner Platz ein Büro. Dort durfte ich die Bezirkszeitungen lesen und auch andere DDR-Schriftstücke. Sie wurden vom amerikanischen Geheimdienst dem Ministerium zur Verfügung gestellt.  So schaffte ich es zum Bespiel Artikel über Potsdam zu schreiben, die ein wenig  aktuelle Informationen hatten.

1980                            Beim Wohnungsamt, das gab es damals, eine Wohnung erhalten in der Ludwigkirchstraße,  nicht weit vom Kudamm. Ein Zimmer war 14 Meter lang, hatte Marmorsäulen. Es war eine alte kaiserliche Offizierswohnung, Jugendstil, geschliffene Glastüren. Dem  Gerichtsvollzieher habe ich davon nichts gesagt.

1980                            Einstieg in mein zweites großes Thema: Ausländer.  Bei der SPD-Zeitung wollte das niemand machen. So machte ich es. Ich habe linke und  rechte Türken fotografiert. Die Reden der Rechten haben mir die Linken übersetzt und die  Zitate waren sensationell für deutsche Zeitungen. Ich wurde der „Türken-Paule“.   Die Fotos aus jener Zeit sind   das Fundament meines Archivs.

1981                            Nächstes großes Thema: Die Wohnungs-Spekulation in Berlin und die Gegenwehr.  Mehr als 160 Häuser waren schließlich besetzt. Viele Pflastersteine waren nötig bis die   Politik geändert wurde. Weiteres Thema: Atom-Rüstung. Die USA und die Sowjetunion wollten Atom-Raketen stationieren in Deutschland. Es gab viele Demos gegen die Amerikaner, Blockaden von Kasernen, Verhaftungen und Ermittlungs-Ausschüsse bei den Prostierenden. Ich war immer mittendrin.

1981                            Wahlkampf in Berlin. Ich fotografiere für die Kandidaten Jochen Vogel und Richard von   Weizsäcker. Die AL, später Grüne, druckt Plakate mit meinen Bildern.

1982                            Besuche des amerikanischen Präsidenten in Berlin. Schwere Krawalle. Mein Haupt-Thema ist Nachrüstung und Friedens-Bewegung.

1985                            Umstieg auf Computer. Weil es damals keine Archiv-Programme gab, habe ich selber eins geschrieben. In der Sprache dBase, mit Clipper in Maschinen-Code kompiliert. Dazu auch ein Strich-Code-Programm. Eine Laser-Pistole habe ich aus einem Supermarkt bekommen. Meine Frau hat die Fotos eingescannt, an die Zeitungen geschickt, die Rückläufer ausgescannt. Wir konnten jedem Zeitungs-Redakteur sagen, welche Fotos er schon hatte. Das Geschäft lief    langsam sehr gut. Die alten Fotobestände verwalte ich immer noch über dieses Programm. Umsatz-Rendite 49 %.  Ich kaufte zwei große Meteor-Entwicklungs-Maschinen aus einem Profi-Labor. Die Qualität stieg.

1988                            Wahlkampf in Berlin. Ich fotografiere für den SPD-Kandidaten Walter Momper.

1989                            Am Abend des 9. November war ich am Brandenburger Tor. Dort kletterten die ersten West-Berliner auf die Mauer und die DDR-Grenzer haben nicht geschossen. Es war das Ende der DDR. Ich bin bestimmt nicht sentimental, wie man aus meinem Lebenslauf sehen kann, aber in jener Nacht sind mir sind einfach die Tränen runter gelaufen.

1989                            Bei einem SED-Sonderparteitag im Dezember habe ich mit Hans Modrow geredet, damals Ministerpräsident der DDR und SED-Funktionär, was wichtiger war. Ich habe ihn gefragt, ob ich nicht in der DDR fotografieren darf. Zwei Tage später hat mich seine Abteilung <Agitation und Propaganda> angerufen und gefragt: was willste fotografieren? Bitterfeld, hab ich gesagt. Von da an habe ich 5 Jahre nur noch die DDR fotografiert.   Die Ossis waren viel exotischer als die Türken. Ich habe mir ein größeres Auto gekauft, in dem ich schlafen konnte. Das war immer noch besser als DDR-Hotels.

1990                            Weil die DDR auf einer Akkreditierung bestand, habe ich mich für die Süddeutsche Zeitung akkreditieren lassen. Der Presseausweis ist die Erinnerung an den einzigen Vertrag, den ich je mit einer Zeitung geschlossen habe. Sonst war ich immer selbstständig.  Mit der SZ hatte ich den Vertrag: ich musste jede Woche ein Titelfoto abliefern, sonst konnte ich machen, was ich wollte. Weil ich für die SZ gearbeitet habe, standen mir beim Fotografieren viele Türen offen. Vertrauens-Vorschuss.

1990                            Ich durfte im DDR-Uranbergbau fotografieren, zunächst in Drosen, das noch in Betrieb war. Da fragte mich einer der Arbeiter, ein Mitglied der BGL-Leitung, der Betriebs-Gewerkschafts-Leitung, ob ich nicht morgen nach Ronneburg kommen möchte. Die Bergarbeiter wollten ihre Schächte besetzen. Sie hatten gedroht, dass sie radioaktives Material auf die Autobahn kippen würden, wenn nicht jemand aus Berlin kam zum Verhandeln. So fotografierte ich aus 600 Meter Tiefe. Dies Beispiel soll zeigen, dass die Macht-Strukturen der DDR zusammengebrochen waren. Ich redete nicht mehr mit den Betriebsleitern, gleich mit der Gewerkschaft, wenn ich in einem Betrieb wollte. Das funktioniert auch im Ausland. Von der polnischen Botschaft habe ich Telefonnummern von Zechen erhalten. Ich habe in der Zeche Kattowitz angerufen und nach einer Weile bin ich beim Direktor gelandet, der auch kein Deutsch, kein Englisch, kein Französisch konnte. Aber er hat die deutsche Putzfrau gerufen. Sie hat übersetzt. Ich durfte in der Zeche fotografieren.

1991                            Luftaufnahmen von Berlin. Ich habe einen Hubschrauber gemietet. Bis dahin war Berlin Besatzungs-Stadt, Deutsche durften keine Luftaufnahmen machen. Jetzt durfte ich.  (Eine Ausnahme gab es 1986. Da wollte ein texanischer Milliardär in Berlin investiere. Er hat sich die Stadt von oben angesehen, ich durfte mitfliegen gegen Gratis-Fotos. Sie waren nicht gut, weil ich durch den dreckigen Kunststoff des Hubschraubers fotografieren musste.)

1992                            Ich habe Treuhand-Direktoren begleitet bei ihren Dienstreisen zu den DDR-Betrieben, vor allem Klaus Schucht, der für die Chemie-Industrie zuständig war. So konnte ich in vielen   Betrieben Bilder machen.

1995                            Die DDR ging langsam zu Ende, sie verschwand einfach, selbst die Plattenbauten wurden  verwestlicht. Oder wie ein Bekannter, Alexander Longolius, sagte:  Wir haben aus der Otto-Grotewohl-Straße die Otto-Versand-Straße gemacht.

ab 1995                      Ich konzentrierte mich wieder auf die alten Haupt-Themen.

2005                            Meine Frau ist schwerkrank. Ich mache die nächsten Jahre Kranken-Pflege.

ab 2005                      Recherche der Familiengeschichte Glaser

6.11. 2018                 Ursel Glaser   stirbt

ab 2018                       Arbeit an den biografischen Geschichten, weitere Digitalisierung des Fotoarchivs

2021                            Krankenhausaufenthalte. Einrichtung der biografischen Internetseite

Ingo Kahle: Begegnungen mit Paul Glaser

Als Berliner Journalist war mir der Name des Fotografen-Kollegen Paul Glaser ein Begriff, wenngleich wir uns nie bewusst persönlich begegnet sind. Als mich der Ambulante Hospizdienst des Diakonie-Hospizes Wannsee fragte, ob ich als Ehrenamtlicher die Begleitung Paul Glasers übernehmen wolle, sagte ich deshalb sofort zu. Beim ersten Besuch in seiner Wilmersdorfer Wohnung wurde mir schnell klar, dass er jemanden suchte, der ihm bei der Digitalisierung seines wahrlich umfangreichen Fotoarchivs helfen würde. Das ist nicht meine Stärke. Deshalb befürchtete ich zunächst, dass er diese Begleitung womöglich nicht als ihm dienlich betrachten würde. Nach meinem zweiten Besuch, diesmal im Krankenhaus Waldfriede, war der Eindruck ein ganz anderer: Ein äußerst wacher, lebendig erzählender Paul Glaser berichtete mir aus seinem Leben im politischen Berlin. Wir tauschten gemeinsame Erinnerungen aus, diskutierten Themen der Zeit. Über seine Krankheit wollte er kaum reden, nur jeweils ein kurzer Bericht zur tagesaktuellen gesundheitlichen Lage. Sein Schicksal hatte er vor Augen, ohne dass ihm das die Lust am geistigen Austausch getrübt oder gar genommen hätte. Er bedankte sich sehr für meinen Besuch. Es war mir ebenso eine Freude.

Die zweite Begegnung, noch immer im Krankenhaus Waldfriede, war wieder sehr lebendig, ein angeregtes Gespräch. Wie er da in seinem Bademantel die ganze Stunde lang auf der Bettkante saß, machte er nicht den Eindruck, dass er dem Tod näher war, als er sich möglicherweise eingestehen wollte. Jedenfalls drückte er diesen Gedanken wohl eher weg. Auf dem Tisch neben dem Bett stand aufgeklappt sein Laptop. Er arbeite ja noch, wolle noch Vieles aufschreiben, sagte er. Viel lieber als von Krankheit erzählte er aus seinem Leben, von seinem Geburtsort in der Ukraine, von seiner Freundschaft mit dem Berliner SPD-Urgestein Harry Ristock, davon, wie er Marianne von Weizsäcker beim Wahlkampf zugunsten ihres Mannes Richard begleitet habe. Unser gemeinsames Schicksal, Witwer zu sein, war ein Thema, über dem sein Erzählfluss eher stockte. Er sei ja beruflich viel unterwegs gewesen, worunter seine Frau sehr gelitten habe. Ein Thema, über das er nicht reden wollte, schien mir – wie überhaupt über sehr Persönliches, Gedanken, Befürchtungen. Das gilt es bei diesen Begleitungen von Menschen am Ende von deren Leben immer zu respektieren. Menschen sind unterschiedlich: Manche erzählen einem Dinge, die sie niemand anderem offenbaren würden, Dinge, die noch ausgesprochen, wenn nicht geklärt werden sollen. Andere wollen ihren Mitmenschen mit ihrem Schicksal nicht zur Last fallen, vor allem auch nicht sich selbst, machen also Belastendes eher mit sich selbst aus. Bei allem lebendigen Erzählen spürte ich doch, wann seine Kräfte nachließen und es Zeit war zu gehen.

So gern Paul Glaser sich auch mit mir austauschte, beim nächsten Besuch bei ihm zu Hause war deutlich zu spüren, wie es ihn anstrengte, aufrecht und aufmerksam auf seiner Couch zu sitzen. Er müsse sich hinlegen. Aber er bot mir noch an, mir einen Negativ-Scanner zum Ausprobieren zur Verfügung zu stellen. Zwei Tage später meldete er den zuvor im Keller gelagerten zum Abholen bereit. Als ich diesen dann wenige Tage später zurückbrachte, waren seine Kräfte noch mehr geschwunden. Als ich mich nach einer kurzen Begegnung verabschiedete, stand er in seinem Flur, gekrümmt, auf seinen Stock gestützt, mir nachschauend als wolle er sagen, es sei zweifelhaft, ob wir uns noch einmal wiedersehen würden. Ein Blick, den ich nicht vergessen werde. Es war mir unangenehm, ihn so stehen, nein, ihn buchstäblich so zurücklassen zu müssen.

Wir telefonierten noch mehrmals kurz, Besuche waren nicht mehr möglich, er solle sich ausruhen, habe die Palliativ-Ärztin ihm geraten. Beine hochlegen. Aber: Er hoffte, er wünschte sich sehr, wir beide könnten bei besserem Wetter mit dem Rollstuhl in die Natur gehen. „Das wäre dann ein Abschied“, waren seine Worte. Dazu kam es nicht mehr. Ulrich Horb, der Journalisten-Kollege, den ich aus ersten journalistischen Erfahrungen in den siebziger Jahren beim Landesjugendring Berlin kannte, informierte mich schließlich, dass Paul Glaser auf der Intensivstation im Auguste-Viktoria-Krankenhaus liege, dann auf die Normalstation verlegt wurde. Es war jedoch die Corona-Isolierstation. Ich hatte Paul Glaser versprochen: Wenn Ihr Leben zu Ende geht, müssen Sie nicht allein sein. Wenn ich kann, bin ich bei ihnen.“ Ich wollte ihn eigentlich unbedingt dort besuchen. Aber das Infektionsrisiko konnte ich aus verschiedenen Gründen nicht eingehen. Ich bedaure das sehr.

So ging Paul Glasers Leben zu Ende wie viele in diesen Tagen. Nicht an, sondern mit Corona, jedoch allein, isoliert, in einem Krankenhaus. Nicht dort, wo er es vielleicht erhofft hatte und wie es sich die meisten Menschen wünschen, in seinem Zuhause. Ich bin dennoch sehr froh, dass ich Paul Glaser kennenlernen durfte. Es waren wenige, aber intensive Begegnungen, die mir sehr viel gegeben haben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er mir ein Beispiel dafür gab, wie man dieses schwere Schicksal einer solchen lebensbedrohlichen Erkrankung ertragen kann und dadurch uns, die wir weiterleben dürfen, Mut zu machen und Zuversicht zu geben für dieses, unser Leben. Und nicht zuletzt hat mich diese Erfahrung bestärkt, diese ehrenamtliche Arbeit in der Sterbebegleitung fortzusetzen. Danke, Paul Glaser!

Erinnerungen an Paul Glaser (1941 – 2022)

Grab von Paul und Ursel Glaser auf dem Friedhof Heerstraße. Foto: Ulrich Horb

Grab von Paul und Ursel Glaser auf dem Friedhof Heerstraße. Foto: Ulrich Horb

Der Berliner Pressefotograf Paul Glaser ist am 10. März 2022 verstorben.  Hier erinnern sich Freunde und WeggefährtInnen  an ihn.

Erinnerung an Paul Glaser in der taz:  Nachruf in der Online-Ausgabe  —  Nachruf in der Wochenendausgabe der taz vom 2./3.April (Doppelseite als PDF)

Nachruf im Vorwärts

Traueranzeige im Tagesspiegel

Werner Kolhoff, Journalist, ehem. Sprecher des Berliner Senats: Paul Glaser war ein politischer Chronist Berlins und Deutschlands, ein engagierter Berufsfotograf, wie es nur wenige gab und gibt. Als Pressesprecher erst der Berliner SPD und dann des Senats habe ich zwischen 1982 und 1991 sehr häufig mit ihm zusammengearbeitet. Er war einfach immer da bei allen Veranstaltungen der Partei, aber auch darüber hinaus, bei allen Ereignissen, die in Berlin wichtig waren. Ein Sozialdemokrat durch und durch, der jeden kannte, schnell Kontakt aufnahm und vor niemandem Angst hatte, mochte er noch so bedeutend sein. Für verschiedene Broschüren und andere Projekte war ich mehrfach bei ihm zuhause und habe dort begriffen, wie er arbeitete: Systematisch, wie ich es von keinem anderen Fotografen kannte. Alles war bei ihm schon sauber registriert, als es noch keine Computer gab, so dass er unter den Tausenden von Negativen sofort fand, was man suchte. Er hatte praktisch alle Berliner Politiker abgelichtet, in den unterschiedlichsten Situationen und in vielen Kombinationen mit anderen Menschen. Wenn es einen Skandal gab oder ein anderes Ereignis, hatte er die passenden Fotos mit den betreffenden Personen sofort parat. Oft nur er. Dazu kamen seine Fotoserien zu sozialen und ökologischen Themen, an denen er arbeitete, wenn er nicht auf Veranstaltungen war. Paul hatte schon damals einen riesigen Fundus gesammelt. Es waren oft sehr sensible Bilder. Unter anderem erinnere ich mich noch an ein Foto, auf dem zwei alte Menschen vor ihrer Datsche im Kleingarten sitzen, hinter ihnen drohend die Wohntürme des Märkischen Viertels. Für so etwas hatte Paul einen Blick. Einen politischen und empathischen Blick. Der fehlt nun für immer. Und mit ihm ein sehr sympathischer Mensch.

Walter Momper, ehem. Regierender Bürgermeister:  Paul Glaser war ein wunderbarer, tiefsozialer Mensch und ein glühender Fotograf. Mit großer Leidenschaft hat er Politiker, gesellschaftliche Entwicklungen und vor allem das Leben der Migranten in Kreuzberg fotografiert. Besonders die türkischen Migranten hatten es ihm angetan. Er fotografierte sie in allen möglichen Lebenslagen, mit großer Zuneigung. Außerdem versuchte er neuere Entwicklungen in der Gesellschaft fotografisch zu erfassen und durch die Bildersprache zu verdeutlichen. Er fotografierte besonders Politiker und versuchte fotografisch ihren Charakter zu entdecken und sichtbar zu machen. So hat er auch mich begleitet vom Kreuzberger Jungsozialisten bis zum Regierenden Bürgermeister über mindestens dreißig Jahre meines politischen Lebens. Seine Fotografien-Sammlung ist ein großer Schatz und enthält die fotografischen Zeugnisse seiner Zeit in West-Berlin. Wir dürfen gespannt sein darauf, was das Archiv noch enthält und wie es der Öffentlichkeit präsentiert wird.

Ed Koch, Paperpress: Nachruf in Paperpress (PDF)

Erich Rauschenbach, Karikaturist: Paul war eine Institution. Er kannte Westberlin wie seine Fototasche. Man konnte denken, wer nicht von ihm fotografiert wurde, hat so gut wie nicht existiert (zum Glück hat er auch mich mal abgebildet).  Und dann hat er noch für das einzige „Hobo“-Heft (Vorgänger der Programmzeitschrift „Zitty“), das restlos verkauft wurde, den Anlass, nämlich das Titelbild mit 6 nackten Jünglingen fotografiert. Und was unsere „Zusammenarbeit“ für die BERLINER STIMME betrifft, hatte er alles in petto, was ich u.U. für das „Blasenfoto“, ein Politikerfoto  mit einmontierter Sprechblase, verarbeiten konnte. Und ein wunderbarer Kumpel war er auch.

Der Berliner Karikaturist Julius Eschka (Titus) hat Paul Glaser 1980 in Aktion festgehalten – auf Harry Ristocks traditioneller Gartenfete. Die Zeichnung stammt aus dem Besitz von Erich Rauschenbach.

Paul Glaser auf der Gartenfete von Harry Ristock, eine Zeichnung von Julius Eschka (Titus) 1980.

 

Andreas Schoelzel, Pressefotograf: Paul, ich Danke Dir!  In irgendeinem Seminarraum des Publizistischen Instituts der Freien Universität Berlin traf ich ihn zum ersten Mal. Diesen robusten Mensch mit Schnäuzer. Paul Glaser versuchte uns jungen Studis seinen Blick auf die Pressefotografie zu erklären. 1982 wird es gewesen sein. Am Roseneck oder (eher) in Lankwitz? 
Paul Glaser, der Geschichtenerzähler hat mich fasziniert. Seine Biografie, seine Positionen. Seine Nähe zum Menschen. Bald darauf trafen wir uns regelmäßig auf den Straßen Westberlins bei Demos, in Häusern und Palästen. Dort wo in der Mauerstadt Politik passierte. Mit Paul Glaser im Wahlkampf, da war was los.
Mein ziemlich theoretisches Studium der Publizistik an der FU habe ich durch „Praxisseminare“ auf der Straße und mit echten Menschen ersetzt. Ich glaube, Paul hat das mit ausgelöst. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – in seinen Bildern hab ich diesen Satz verstanden. 
Und so ging auch ich los auf die Menschen. Kam gelegentlich eher wortlos zurück. Aber habe gelernt. Gelernt, offen zu sein und eine Position zu haben (beides, so hoffe ich).  Nach einer (recht kurzen) Zeit als freier Pressefotograf habe ich vier Jahre bei der Nachrichtenagentur AP als „fester Freier“ Fotograf gearbeitet. Eine intensive Zeit. Plötzlich heißt es beim Fototermin: irgendwo auf der Welt ist immer Redaktionsschluss, also beeile Dich. Aber es war ein grandioses weiteres Praxisseminar in Fotografie: alles von Sport bis Mord. Scheinbare Routine und ganz Unvorhergesehenes. Grüne Woche und US-Army-Jeeps mit Einschusslöchern. DDR-Opposition, Leipziger Messe und Gorbatschow. Am Werbellinsee mit Erich Honecker und mit der Stasi an der Gethsemanekirche.
Irgendwann wars gut. Rechtzeitig vor dem Mauerfall hab ich die Agentur verlassen und war wieder freier Fotograf. Menschen zu zeigen und ihre Geschichten in Bildern zu erzählen, ich konnte es wieder (mehr) tun. Ich traf auch Paul wieder etwas öfter – wobei er sich von den „wooling“-Terminen zunehmend fernhielt, seine eigenen Geschichten fotografierte und die neue Reisefreiheit im Osten ausgiebig nutzte. Das Protokoll interessierte ihn nicht, das „schnelle Bild“ wollte er nicht.
Danke, Paul! Ich habe viel von Dir gelernt. (Deine Akribie in der Beschriftung und Archivierung war leider nicht dabei.)

Paul Glaser im Einsatz: im Jahre 1986 auf dem 37. Tag der Heimat. Foto: Christian Schulz

Paul Glaser im Einsatz: im Jahre 1986 auf dem 37. Tag der Heimat. Foto: Christian Schulz

Bernd Schimmler, ehem. Bezirksstadtrat Wedding:  Wenn man seit den frühen siebziger Jahren in der Berliner SPD aktiv war, dann war bei den Veranstaltungen Paul Glaser eigentlich immer irgendwann mit anwesend und fotografierte. Eine Begegnung ist mir in Erinnerung geblieben. Als Vorsitzender der 17. Abteilung im Brunnenviertel hatte ich Ende 1979 unser Mitglied Willy Brandt in die Abteilung eingeladen. Niemand glaubte an den Erfolg der Einladung, bis die Zusage kam. Wir hatten die Aula eines Gymnasiums geordert und vieles vorbereitet – auch Brötchen neben Getränken, die uns die Hochschulbrauerei sponserte. Noch vor Eintreffen des Alt-Kanzlers und Vorsitzenden kamen die Journalisten und Paul Glaser.  Augenzwinkernd sagte er mir, als er die Hackepeter-Brötchen sah, dann muss die BILD ihre schon fertige Überschrift ändern. Die haben schon geschrieben, es gäbe Bouletten. In der Tat hatte die BILD in der Berichterstattung unterschiedliche Schrifttypen in der Headline. Paul Glaser verdanken wir von dieser erfolgreichen Veranstaltung viele Fotos und eines seiner Kollegin zeigt ihn dann auch.

Foto: Waltraud Heidak, stehend rechts hinten Paul Glaser, rechts vorn Willy Brandt, ihm gegenüber Erich Pätzold, Horst Bowitz Heinz Puhst und halb verdeckt Wolfgang Sorgatz.

 Ingo Kahle, Journalist,  ehrenamtlicher Hospizdienst: Begegnungen mit Paul Glaser

Michael Donnermeyer, ehem. Sprecher des Berliner Senats: Paul war immer dabei, deswegen gibt es ein Standbild von ihm in meinem Kopf aus den schätzungsweise Hunderten Terminen, die wir gemeinsam hatten, ich als Pressesprecher, Wahlkämpfer oder Fanmeilenorganisator, er als Fotograf, meistens im Pulk mit seinen Kollegen, gelegentlich aber auch allein und exklusiv. Fototasche und Kamera waren wie mit ihm verwachsen, als gehörten sie zu seinem Körper. Und so ist es ja auch: Die Kamera war sein sechstes Sinnes-Organ, sein Auge in die Welt, das jene Bilder produziert, die den Moment verdichten, ihm das ganz spezielle Narrativ verleihen, mit dem es in unserer Erinnerung verknüpft wird, wenn wir sie heute betrachten. Großartige Bilder sind darunter, bei denen ich mich fragte, wie sie ihm  unter den Umständen seiner Arbeit gelingen konnte – in Hektik, mit vielen Kollegen um sich herum und Motiven und Menschen, die ihm in dem Moment wenig Beachtung schenkten. Weil es so viele sind, war es nicht Glück – das man natürlich auch braucht – sondern sehr solides Handwerk und ein sensibler Blick. Den hatte er und er kaum aus seinem Wesen, das man spürte, wenn man Zeit zum Reden hatte. So bleibt er mir als Mensch in Erinnerung – und sein Archiv ist Zeitgeschichte, sowieso. Adieu, Paul.

 

Paul Glaser, siebziger Jahre.

Paul Glaser, sechziger Jahre.

Paul!  so nah – so fern   Deine Anne

 

Christian Hoßbach,  ehem. Sprecher des Ost-Berliner Magistrats, zuletzt  Vorsitzender des DGB Berlin-Brandenburg:  Paul Glaser, das war ein echter Typ. Es mag ja einige geben, die meinen, alles und jedes Bild liefern zu können. Paul Glaser hatte alles, kannte jede und jeden. Deshalb konnte er sich auch seine meinungsstarke Klappe leisten. So jedenfalls meine Wahrnehmung in den 80ern/90ern, als wir immer wieder miteinander zu tun hatten. Ich fragte mich manchmal: Hat er eigentlich das Labor in der Wohnung oder die Wohnung im Labor? Unverkennbar war Paul kein „Knipser“, er war Fotograf mit inhaltlichem Interesse und stabilem Fundament. Als die Mauer aufging, hat er sich sofort auf den Weg gemacht und auch zu den ostdeutschen, Ostberliner PolitikerInnen einen Draht gefunden, hat sie ernst genommen. Und als gelernter Betriebsrat hatte Paul ein spezielles Interesse an der Arbeit, an Gewerkschaften, auch das ist leider zu selten. Lieber Paul, das war sehr stark. Ruhe in Frieden.

Jan Athmann, Bildredakteur zb Fotoagentur Zentralbild: Ich hatte das große Glück, ihn persönlich kennenzulernen. Zwei oder drei Male hatte ich ihn in seiner Wohnung besucht, um Fotos mit ihm zu sichten und sein Katalogsystem anzuschauen. Er hatte Bouletten gemacht und üppig aufgetischt –  mir knurrte der Magen und wir aßen zusammen – wunderbar. Es waren herzliche und interessante Stunden, die ich nie vergesse. Viel hatte er zu erzählen und einen frischen Blick aufs Aktuelle.  Beeindruckend auch, wie sehr er sich mit seiner Arbeit vom Kranksein regelrecht emanzipiert hat,  sich nicht hat kleinkriegen lassen, aber immer betont, dass es kaum Aussichten auf Heilung gibt. Erst Anfang Februar hatte ich ihn angerufen und er arbeitete gerade… eindrucksvoll, unvergessen wird er mir bleiben.

Dieter Klar, Bildarchiv Klar: Ludwigkirchstr. Hinterhof. Paul und der Schnäuzer gehörten für mich zu Berlin, er hatte diese Ruhe, alter Hase eben und kannte jeden in der Berliner Politik, ob auf dem Weg nach oben oder unten. Paul, Klaus Lehnartz – diese Typen fehlen.

Paul Glaser, Fotoausstellung in Kreuzberg. Foto: Ulrich Horb

Paul Glaser, Fotoausstellung in Kreuzberg. Foto: Ulrich Horb

Gudrun Giese, freie Journalistin, ehemalige Redakteurin der Berliner Stimme:  Paul Glaser war der erste Pressefotograf, der mir in Berlin begegnet ist, und dann war es gleich ein so unverwechselbarer Typ! In Erinnerung bleibt mir vor allem, wie er über Stunden Berliner SPD-Landesparteitage fotografisch begleitet hat, mindestens eine Kamera um den Hals, auf der Schulter hing noch die Fototasche mit weiteren Kameras und Objektiven für alle Gelegenheiten. Paul wusste immer frühzeitig, wer Stadtrat bzw. Stadträtin, Senator/in, Staatsekretär/in oder sonstwie wichtig werden würde. Und so hatte er beizeiten das passende Porträtfoto, das dann auch „Spiegel“, „FAZ“ und „FR“ nachfragten. Lange kannte ich ihn nur als arbeitenden, das heißt als fotografierenden Menschen. Doch Anfang der 2000er entdeckte ich Paul (und seine Frau) an anderer, unerwarteter Stelle, nämlich im Sommerbad Wilmersdorf („Lochowbad“), wo wir regelmäßig vor oder nach unseren Schwimmrunden ein paar private Worte wechselten.

Toni Nemes, aka Manfred A. Kotz, Pressebüro transit berlin bis 1997: Bei Paul Glaser denke ich zuerst an das Fotoarchiv der Berliner Stimme. In der Vorwendezeit, als ich dort die Kulturseite betreute, hatte es seinen Platz in einem Nebenraum der Reaktion hinten links in einem Stahlschrank mit prall gefüllten Hängemappen. Was dort nicht hineinpasste oder noch nicht einsortiert war, stapelte sich zusätzlich auf den Fensterbänken. War man auf der Suche nach einer passenden Illustration fündig geworden, erübrigte es sich eigentlich der Blick auf die Rückseite – klar, das Bild stammte von Paule, zumindest wenn es sich um neuere Aufnahmen handelte. War die Suche ausnahmsweise nicht erfolgreich, reichte meist ein Anruf und Paul Glaser konnte das gewünschte Motiv liefern. Damals bekam ich eine Idee davon, wie breit Paul thematisch aufgestellt war.

Paul Glaser (l.) im Gespräch mit Günter König (1933 - 2015), Bezirksstadtrat für Jugend und Sport in Berlin-Kreuzberg, Berlin-Kreuzberg, 25.11.1988. Das Foto entstand während einer Kaffeepause der Wahlkampftour des SPD-Politikers Walter Momper zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses am 29.01.1989. Foto: Toni Nemes, www.toninemes.de

Paul Glaser (l.) im Gespräch mit Günter König (1933 – 2015), Bezirksstadtrat für Jugend und Sport in Berlin-Kreuzberg, Berlin-Kreuzberg, 25.11.1988. Das Foto entstand während einer Kaffeepause der Wahlkampftour des SPD-Politikers Walter Momper zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses am 29.01.1989. Foto: Toni Nemes, www.toninemes.de

Bei einer 1988 vom Innerdeutschen Ministerium organisierten Journalistenreise in die DDR konnte ich dann auch über Tage beobachten, wie Paul arbeitete: Nie um einen flapsigen Spruch verlegen, konnte er es mit wenigen Worten schaffen, die Menschen für sich einzunehmen und ihnen helfen, ihre natürliche Kamerascheu zu überwinden. Dabei biederte sich Paul nie an, er nahm die Menschen ernst. Oft gelangen ihm auf diese Weise fast spielerisch Aufnahmen, die die Menschen und die Verhältnisse, in denen sie lebten, authentisch zeigten. Und die über das Abgebildete hinaus das Mitgefühl und die Sympathien des Menschen hinter der Kamera für die Menschen vor der Kamera erahnen lassen. So entstanden  mitunter – auch wenn das Wort verpönt sein mag – parteiische Fotos im besten Sinne des Wortes, die ihren Wert über den Tag hinaus behalten werden.

Christel Deja, ehem. Mitarbeiterin der „Berliner Stimme“: Paul sehe ich vor mir mit seiner schweren Kamera, immer zuverlässig und bereit, mitunter schnell wie die Feuerwehr, insbesondere um politische Ereignisse im wahrsten Sinne des Wortes sichtbar zu machen. Fotografisches Talent und Gespür für „das Dahinter“ verlieh seinen Fotos Ausdruck als verstärkende Ergänzung des Wortes. Mitunter empfand ich seine Sichtbarmachung des Geschehens sogar noch anschaulicher als Worte allein es vermögen. Meiner Bitte an ihn zur Stelle zu sein ist er häufig, wenn auch nicht gerne zu jedem Anlass, nachgekommen. Sein Denken und Wirken war von fester, eigener politischer Überzeugung geprägt. Aktuelle Ereignisse im Bild festzuhalten war ihm ein brennenderes Anliegen, als sich den stets wiederholenden Ehrentagen zu widmen, mit denen das Archiv bereits bestückt war. Dafür achte ich ihn ganz besonders. Paul hatte aus meiner Sicht ein ausgefülltes Leben, das er mit Fleiß – seiner Berufung folgend – gestaltete.
Als Freigeist durch und durch, Künstler ohne Allüren, klar und bodenständig habe ich ihn vor Augen. Als Persönlichkeit sowie durch sein Schaffen bleibt er lebendig. Alle werden ihn vermissen, keiner verlieren.

Paul Glaser 2011, Fotoausstellung im Wedding. Foto: Ulrich Horb

Paul Glaser 2011, Fotoausstellung im Wedding. Foto: Ulrich Horb

Ulrich Horb,  ehem. verantw. Redakteur „Berliner Stimme“: Seine Aufträge hat er sich meist selbst erteilt. Ihn interessierte nicht das schnelle Bild bei einem Pressetermin, er begleitete mit seiner Kamera lieber Entwicklungen und Ereignisse, die ihn längerfristig interessierten, ob es das Thema Zuwanderung war, die Wohnungspolitik oder die Veränderungen an den Arbeitsplätzen. Er gewann das Vertrauen der Menschen, die er fotografierte. Türkische Arbeitnehmer, die er in ihrer Firma kennenlernte, durfte er dann auch zu Hause oder bei einer Hochzeitsfeier mit der Kamera besuchen. Wenn eine Redaktion anrief, dann hatte er das passende Bild, weil er die wichtigen Berliner Termine und Themen ohnehin im Blick hatte. Seine mehr als eine Million Negative sind ein wichtiges zeitgeschichtliches Archiv.

 Hier ist Raum für weitere Erinnerungen und Abschiedsworte. Bitte an info@ulrich-horb.de

Grab von Paul und Ursel Glaser auf dem Friedhof Heerstraße. Foto: Ulrich Horb

Grab von Paul und Ursel Glaser auf dem Friedhof Heerstraße. Foto: Ulrich Horb

1966: Jahreschronik

Es ist viel los. In Bonn tritt CDU-Kanzler Erhard ab, es regiert nun die Große Koalition aus CDU und SPD. Ex-NSDAP-Mitglied Kiesinger und der Anti-Nazi Brandt arbeiten zusammen im Kabinett. Studentenführer Rudi Dutschke ruft zur Bildung einer „Außerparlamentarischen Opposition“ auf, der APO. Der Vietnamkrieg fordert immer mehr Opfer und provoziert immer mehr Widerstand. Die Ideale der Eltern haben für die Jugendlichen keinen Wert mehr.
Überall ist noch der Adenauer-Staat. Im Oktober wird Albrecht Speer, der Handlanger des Führers, aus dem Gefängnis entlassen und auch Reichs-Jugend-Führer Baldur von Schirach. Zwei Drittel der Geheimdienst-Jobs sind mit alten Nazis besetzt. Alle Richter der Nazi-Justiz entgehen dem Rechts-Staat. Sie haben mehr als 40 000 Todes-Urteile gesprochen und bauen nun die Demokratie auf. Weiterlesen

1967: Prinzenstraße

Prinzenstraße, Kreuzberg, 1967

1967 bin ich nach Kreuzberg gezogen, in die Prinzenstraße 15. Ein altes Haus aus der Zeit der Sozialisten-Gesetze, aber mit Innen-Toilette für den gehobenen Arbeiter, der einen Kohle-Badeofen zu schätzen weiß, einmal pro Woche. Das Berliner Zimmer, riesengroß, dazu noch ein weiterer großer Raum, in dem ich wohne. Für das andere Zimmer habe ich keine Möbel, es steht leer, hat aber zwei Schlafsäcke auf dem Boden für Gäste.


Prinzenstrasse: großes Zimmer in einem Abrisshaus. Möbel vom Sperrmüll, aber eine große Studio-Tonband-Maschine für die Musik. Dort habe ich von 1967 bis 1972 gewohnt. Es war ein offenes Haus. Foto: privat

Im Wohnzimmer liegt eine doppelte Bett-Matratze, Teppiche ringsum, eine Staffelei und ein großes Brett über zwei Kästen als  Schreibtisch, später ersetzt durch einen Rokoko-Tisch aus einer Wohnungs-Auflösung, leicht angeschlagen. Es gibt keine Stühle. Die Gäste sitzen auf Kissen, auf dem Fußboden. Weiterlesen

1966: Bei Zint in Hamburg

Paul Glaser: Wissen ist Macht. Foto: privat

Paul Glaser 1966: Wissen ist Macht. Foto: privat

 Auf nach Hamburg

Ich hänge in Berlin rum, habe gerade den Bank-Job beendet, hab eine neue Freundin, aber kein Geld für die Miete. Mein Studium ist kaputt, ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.

Günter Zint kannte ich aus München. Nun versucht er in das Pop-Geschäft einzusteigen. Zint bietet mir an, nach Hamburg zu kommen. Er hat sich eine Bilder-Produktion aufgebaut. Er fotografiert Schauspieler und Musiker, arbeitet für Illustrierte und Ju­gend-Zeitschriften. Ich soll sein Archiv in irgendeine Ordnung bringen. Ich komme nach Hamburg per Anhalter, mitten hinein in die Alkoholwelt. Weiterlesen

1965: Arbeit bei der Bank

November 1965

Das Jahr 1965: Im Herbst komme ich aus Schweden zurück nach Berlin, mitten hinein in die kleinen und großen Probleme. Nichts hat sich geändert. aber das Studium ist inzwischen völlig sinnlos geworden.

Noch bin ich eingeschrieben bei der Freien Universität, immer noch Philosophie, aber ich habe nicht vor, in die Vorlesungen zu gehen. Das Studium ist schon fast erledigt. Es ist ein surreales Studium, Hegel und so‘n Zeugs. Ich kann das inzwischen nur noch als experimentelle Lyrik lesen.

Mehr:  Ich lerne denken – Mein Philosophie-Studium

Soll ich etwa Philosoph werden? Was für eine blöde Idee. Vielleicht in einer Werbe-Agentur philosophischer Fach-Referent zur Vervollkommnung der daseins-bezogenen Umsätze werden?

Ja, das hätte ich mir alles zum Beginn des Studiums überlegen sollen. Hab ich aber nicht. Und so sitze ich in den Vorlesungen mit dem gesammelten deutschen Unsinn.

In Wilmersdorf, in der Uhlandstraße 60, finde ich eine Wohnung. Es ist ein großer Raum im Hinterhof, ebenerdig, keine Stufen, wohl ein ehemaliges Lager, vielleicht auch ein Fleischer-Laden. Du machst die Tür auf und stehst gleich im Schlafzimmer, das kopfhoch weiß gefliest ist, mit einem Öl-Ofen, einer Toilette und einer Koch-Ecke.

Ich finde bei den Trödlern Bett-Matratzen, die auf dem Boden liegen. Ein paar Bretter auf Kisten gelegt, das ist der Tisch. Das Wichtigste aber ist die Musik-Anlage.
Ein Uher-Tonband-Gerät mit 38-er Geschwindigkeit und großen Spulen, abgestaubt in einem Aufnahme-Studio. Ein großer Verstärker, dazu habe ich Lautsprecher-Boxen selber gebaut, jede etwa ein Meter hoch, ein Meter tief, Riesen-Klopper, unverkleidet, rohe Bretter. Wenn ich die Bässe aufdrehe, kann ich den Nachbarn im Stock über mir aus dem Bett schütteln.

Die Wohnung ist nicht weit weg vom Kudamm, ich bin mal wieder mitten drin im Kiez, alle wichtigen Kneipen sind in Reichweite.

Mit Chris läuft es nicht mehr, deutlicher: es ist aus, endgültig.

Sie will heiraten, ein Kind haben. Für mich ist das, so schreibe ich ins Tagebuch, das Ende meiner Laufbahn als Genie und Welt-Veränderer. Wir einigen uns: ich will nicht und sie macht Schluss.

Ich schütte Alkohol in mich rein und trauere tagelang, bis ich kein Geld mehr habe.

Ich arbeite bei der Bank

Dann bekomme ich Arbeit bei der Bank. Die Zentrale ist in einem Rotlicht-Viertel, Straßen-Strich, irgendwie passend für eine Bank, finde ich. Im Seitenflügel ist mein Büro, mit drei anderen sind wir die Abteilung, die eine Unterabteilung ist von einer Sonderabteilung, die Geld holen muss von Leuten, die keins haben. Sie heißt „Abteilung für not-leidende Kredite“.  Bei der Bank sind die Kredite not-leidend, nicht die Menschen.

Manche von ihnen glauben, dass sie, wenn sie gute Gründe haben, ihre Klein-Kredite nicht zurückzahlen müssen. Da kennen sie aber unser Wirtschafts-System schlecht.
Wir haben bei unwilligen Kunden so einige Möglichkeiten: die Mahnung, die grobe Mahnung, beschimpfende Mahnung, die Mahnung mit Androhung des Gerichtsvollziehers, die Mahnung mit der Aussicht auf ewige Verdammnis oder Lohn-Pfändung.

Wir schreiben Briefe oder schicken einen Außendienst-Mitarbeiter los, der dafür sorgt, dass die ganze Nachbarschaft Bescheid weiß.

Natürlich versuchen die Schuldner sich zu wehren, mit ihren Mitteln. Manche arbeiteten einfach nicht und deswegen kann die Bank auch nichts pfänden.

Einige nutzen volksübliche Mittel. Sie verhauen den Außendienst-Mitarbeiter oder kündigten wenigstens an, ihm kräftig die Fresse zu polieren. Das Gefängnis schreckt sie nicht. Es ist häufiger komfortabler als die Wohnung und das Essen ist auch besser. Nur mit dem Alkohol ist es schlechter. Die wirkungsvollste Methode aber ist, einfach nicht zu arbeiten oder wenn sich das nicht verhindern lässt, schwarz zu arbeiten.

Wenn wir vier morgens an unseren Schreibtischen sitzen, werden natürlich zuerst die Zeitungs-Nachrichten durch-gekakelt. Diese Schauspielerin, wie heisst die denn noch, die mit den drei Pudeln, die hat doch diesen Industriellen geheiratet, ein Versehen, sagt er…

Ein Sachbearbeiter, der immer gebückt geht, evolutionäre Anpassung, findet manche Menschen doch sehr unbeherrscht. So diesen Mann, dem die Freundin mit einem Stöckelschuh einen Zahn ausschlägt, worauf er sie erdrosselt. Das ist, findet der Kollege, nicht verhältnismäßig.

Ein Kollege erzählt noch von der Brustentzündung seiner Frau und bezweifelt die Qualität des Krankenhauses. Ein anderer meint, die Brüste sind heute auch nicht mehr, was sie mal waren. Aber so richtig begeistern kann die Entzündung keinen. Wenn jetzt niemand eine Idee hat, müssen wir bis zum Feierabend arbeiten.

Wir versuchen es noch mit der Zeitungsgeschichte über eine verpfuschte Fehlgeburt, bei einer von diesen Schauspielerinnen, die nur über Fehlgeburten in die Zeitung kommen.
Weil niemand mehr eine gute Idee hat zum augenblicklichen Gesellschafts-Geschehen, fangen wir an zu arbeiten.

Zu meinem Job gehört es auch, jeden Morgen die Berliner Zeitungen durchzusehen nach Schlagzeilen wie „Selbstmord“ oder „War er der Mörder mit der leisen Stimme?“ oder „Toter hing im Grunewald“. Wir überprüfen dann, ob das einer unserer Kunden ist, der sich auf diese Art seinen Verpflichtungen entziehen will und der auch noch einen Abschiedsbrief zurücklässt, in dem er der Bank sein Mitleid ausdrückt wegen der Nicht-Zahlung und ihr alles vererbt, was er besitzt: „Hiermit trete ich alle meine Schulden an die Bank ab.“

Aber so kommt er nicht davon. Diese Schuldner glauben, wenn sie im Himmel sind, kann sie ein Zahlungsbefehl nicht mehr erreichen. Kann sein. Es ist natürlich bedauerlich, dass die Ablass-Scheine von der Kirche nicht mehr verkauft werden, war ein gutes Geschäft, aber wenn wir schon nicht die Seligkeit pfänden können, dann aber die Briefmarken-Sammlung des Erben. Wie die regierende Partei immer sagt: die Familie ist das Fundament der Gesellschaft und deswegen verantwortlich auch für die Klein-Kredite der familiären Selbstmörder.

Für solche Dinge beschäftigen wir einen Außendienst-Mitarbeiter. Er besucht die Familie des Toten und überzeugt die Ehefrau des Lebensflüchtigen, dass sie die moralische und geldliche Schuld des Mannes übernehmen muss. „Sie lieben doch ihren Mann?“ fragt die Bank, „und wenn sie ihn lieben, warum zahlen sie dann nicht?“

Das sieht die Frau dann ein, und, um das Unrecht, das ihr Mann der Bank antat, wieder gut zu machen, zieht sie freiwillig ins Obdachlosenasyl und arbeitet als Putzfrau für die Bank.

Der Außendienst-Mitarbeiter macht den Job schon sehr lange und weil sich die Schicksale der Armen immer wiederholen und die Aktenvermerke darüber langweilig sind, hat er, nach und nach, die Berichte erweitert zur Sozial-Literatur. Er beschreibt, wie blau das Gesicht der Ehefrau ist, nachdem der Mann sie verprügelt hat und ein Nachbar hat gesehen, dass die Frau den Mann durch die Tür gestoßen hat, die ganz aus der den Scharnieren fiel. Sehr emanzipiert, die Frau.

Dann nehme ich mir die Briefe der Schuldner vor.

Da schreibt einer der Kunden: „Sie können mir nicht drohen, dass haben Sie ja schon festgestellt. Ich bin ohne Arbeit und bleibe ohne Arbeit solange es mir gefällt, daran können sie nichts ändern. Wenn Sie mir Schwierigkeiten machen wollen, dann können Sie sich das Geld von dem Mond holen. Worauf sie sich verlassen können, so wahr ich Hinze heiße. Ich wäre bereit jeden folgenden Monat 1 mal 25 mtl zu zahlen, aber nur wenn sie mich in Ruhe lassen und mit Ihrem blöden Gebettel endlich aufhören.“

„Abtrittserklärung! Trete meine Schulden mit Zinsen, ungefähr DM 609, — an die Bank ab.“

„Hierdurch möchte ich Sie bitten, von meinem Einverständnis Abstand zu nehmen, da ich leider nicht in der Lage bin, es aufrecht zu halten.“

Das hört sich schon an wie die Argumente eines Unternehmers, der zu viele Schulden hat, als dass man ihn pleite gehen lassen könnte.

Manche reihen sich ein in die übliche Kapitalismus-Kritik, die Enteignung von Banken für eine gute Idee hält.

„Ich bin seitens Ihrer Kreditabteilung in meiner furchtbaren existenziellen und menschlichen Lage bedroht und von der täglichen Arbeit physisch völlig erschöpft. Ich bin nicht in der Lage für ein notwendiges Leiden die Mittel aufzubringen, wodurch ich mir für mein zukünftiges Leben großen Schaden zufüge.“
Hat nicht gewirkt.

Und natürlich haben wir gerade Kalten Krieg und entsprechende Argumente: „Durch Ihre ausgeklügelte Taktik haben Sie aus meiner Ehefrau und mir ein Wrack gemacht. Ich gebe Ihnen eine letzte Frist, die Angelegenheit ins Reine zu bringen, da Sie mich durch ihre Macherei an den Rand des Selbstmords getrieben haben und dazu noch meine liebe Ehefrau. Sollte ich das Geld bis zum … nicht haben, werde ich mich an die SED-Kreisleitung wenden und Ihre gemeinen Schandtaten, die Sie an mir und meiner lieben Ehefrau begingen, mitteilen.“

Bei manchen Kunden bricht bei unserem Außendienst-Mitarbeiter der Zille durch: „Sie ist im Gesicht vollkommen demoliert und grün und blau. Oben und unten, Nase, Mund und was sonst noch im Gesicht vorhanden, alles dick blutunterlaufen. Sie begründet meine nicht ausgesprochene Frage damit, dass sie heute Nacht sich mit ihrem Freund Herrn G. ein bisschen gebolzt hat, aber nur aus Spaß.“
Die Nachbarin berichtet anschließend, vorige Woche wäre Herr G. durch die Türfüllung gefallen.
Die Bank respektiert diese Kreuzberger Eigenheiten. Der Kredit wird gestundet.

Bei anderen ist er hart wie ein Banker: „Er ist ein Spieler und Trinker, doch soll er sich gebessert haben, jetzt trinkt er nur noch.“ Bericht des Außendienstes, Kreuzberger Kurz-Biografie.

„Ich danke Ihnen, dass sie sich meiner Bitte angenommen haben und überreiche Ihnen anbei meine Lebenshaltungskosten. Mit dem Rest kämpfe ich um die Wiederherstellung meiner rechtlichen Ordnung.“
Er muss zahlen.

Zu meinem Arbeitsbereich gehört auch der Buchstabe „D“ und der Sachbearbeiter bringt den Abschiedsbrief des Schuldners D. mit.

“ Liebe Fr. Jacobs, danke für die liebevolle Betreuung. Es war umsonst. Anbei mein restliches Geld. DM 160,–. Bezahlen Sie davon meine Schulden. Die Bank hats geschafft. Passen Sie auf die Oma auf. Ich hab eben immer Pech.“

Natürlich reicht das der Bank nicht, aber es gibt ja Erben, die man rankriegen kann.

Ein anderer Selbst-Mörder: Sein Fall ist kompliziert, weil B. sich an einem Baum erhängt hat, der unter Naturschutz steht. Da ist schon das Abbrechen eines Astes strafbar und die Forstverwaltung könnte dem Erben eine Rechnung schicken und den ganzen Nachlass pfänden. Wie ich aber in der Akte sehe, hat die Bank ein Vor-Pfändungsrecht, so dass der Naturschutz zurücktreten muss.

Ich lege eine Pause ein und schreibe weiter an meinen eigenen Texten.

Zwischendurch sorge ich dafür, dass die Marktwirtschaft funktioniert, schreibe eine Mahnung oder schließe eine Akte, weil es nichts zu holen gibt.

Natürlich mache ich mir immer Notizen über solche Dinge. Das ist zwar streng verboten, aber die Kultur erfordert es und die Schicksale sind es ja auch wert. So wie jene Kurz-Notiz, die ein typisch deutsches Schicksal schildert: „… setzte mich die Eigentümerin glatt auf die Straße und wurde mir nebst Familie ein Pferdestall mit Ehefrau und 2 Söhnen zugewiesen. Und bekam noch dazu vor nicht allzu langer Zeit einen leichten Schlaganfall, was mein Leben sozusagen nach 48- jähriger Arbeitszeit vollständig ruiniert hat. Ich glaubte mit 1945 genügend gestraft worden zu sein (ungewollt), zumal ich noch als alter Frontsoldat aus 2 Weltkriegen (Artillerie-Hauptwachmeister) und sibirischer Kriegsgefangenschaft nach Erfrierung beider Füße (2. + 3. Grades) + Erfrierung des Unterleibs 1946 vorzeitig über Polen als vollständig gebrochener Mensch mit 76 Pfund entlassen wurde.
Aber Sauberkeit und Ordnung herrschen trotz einer leider nervenkranken Ehefrau. Ich will es mir ersparen, weiteres hierüber zu berichten, aber Gottseidank beruhen meine oa Angaben auf purer Wahrheit.
2o Min nach dieser Eröffnung fiel ich wieder ohnmächtig auf dem Fehrbelliner Platz um, dass mich Passanten in die BVG-Halle trugen…“
Brief an die Abteilung Notleidende Kredite.

Kreuzberger Arbeiter-Schicksal. Kredit-Vertrag über 2000 DM, am 13.10.1960 abgeschlossen, unterschrieben von Mann und Frau. Klaus B ist Gießerei-Arbeiter, seine Frau Karin Hilfsarbeiterin.
Der Kredit lief über 2000 Mark. Er verdient pro Woche 167,04 brutto, sie verdient mit Aushilfen pro Monat 37,95 bei einem Stundenlohn von 1,45 DM.
Bis zum 31.10.1961 wurde regelmäßig gezahlt, dann nicht, weil er einen Unfall hatte und krank ist. Seine Frau hat einen Unterleibs-Tumor. Die Bank schickt den Außendienst hin, um zu sehen, ob das alles stimmt. Außendienst (voller Mitgefühl): Klaus B, und seine junge Frau wurden mit Kleinkind, zwei Jahre, in ihrer gemeinsamen Parterrewohnung, Kreuzberg, Hornstrasse, vorn Hausflur rechts, angetroffen und gesprochen:  Die beiden haben sich recht nett eingerichtet und mit nichtneuzeitlichen Möbeln der Wohnung einen wohnlichen Charakter gegeben. Natürlich drückt der Schuh überall. Aber die bisherige Abdeckung des Kredits spricht für beide.
B. hat die schwere Arbeit vor dem Ofen bei den Hüttenwerken Tempelhof durch Krankheit verloren, er ist während des Krankseins gekündigt worden. Er beginnt nun als Vertreter bei einer Firma in Charlottenburg. Der Firmenleiter hat ihm goldene Berge versprochen, die er verdient, wenn er Waschmaschinen, Fernseher und Kühlschränke verkauft. Ich bin sehr skeptisch, und habe ihm auch gesagt, dass er ein schweres Brot gegen ein ungewisses eingetauscht hat. Erst wenn er 14 Tage treppauf, treppab, geklopft und geklingelt hat und keinen Pfennig verdient hat, nur Unkosten, dann wird er selbst entscheiden können und müssen, ob nicht ein falscher Schritt getan worden ist. Frau B hat einen Tumor im Unterleib. Weil die kleine Tochter jetzt in einem Alter ist, in dem es ohne ständige Aufsicht nicht geht, und die Schwiegermutter ist mit dem Schwiegervater bei einer Reisefirma, oft in Westdeutschland und mit auf Fahrt, so dass sie das Kind jetzt nicht verwarten kann. Und die Kindergärten sind alle überfüllt und nehmen keine Kleinst-Kinder an, wo so viele Omas ausgefallen sind, die im Osten wohnen.
Stimmt alles.
Die Omas konnten nach dem Bau der Mauer nicht mehr kommen.
Der Kredit wurde von der Bank gestundet.

Ich habe so einige Dutzend Notizen gemacht, eine Kurzversion der Lebensläufe von notleidenden Schuldnern.

Die dralle Frau

Wie immer bei langweiliger Arbeit, machen sich die Menschen Rituale, damit die Zeit schneller rumgeht. Eines meiner Rituale nenne ich „Schriftverkehr“. Es soll mich näher an den Feierabend bringen.

Die Bank hat eine zentrale Schreibstelle. Dort stehen Halb-Automaten, die Briefe schreiben, jeder so groß wie ein Klavier. Sie schreiben Form-Briefe, werden gesteuert von Lochbändern. An bestimmten Stellen stoppt der Apparat und der Sachbearbeiter muss dann etwas einfügen, den Namen oder eine Schuld-Summe.
Dann rattert die Maschine weiter zum nächsten Stopp: „Wie wir aus den Unterlagen ersehen, haben Sie die letzten Raten Ihres Kredits in Höhe von… „. Sie hält an und nun muss der Betrag eingesetzt werden. Dann rattert weiter bis zum nächsten Stopp und noch einen und beim 4. Stop habe ich dann eingesetzt: „sehen wir uns gezwungen, gerichtliche Maßnahmen gegen Sie einzuleiten“. Dann schreibt der Lochstreifen den Brief fertig: „Mit überquellender Liebe….Ihre Bank“.

Jeden Tag gehe ich in den Schreibraum, auf einem Zettel habe ich die Lückenfüller-Texte. Es ist ein kleiner Raum, sehr laut. Das Schönste an all den Schreibautomaten ist die Schreibdame. Die Dame ist allein im Zimmer, weil der Automat so laut rattert. Das finde ich wirklich toll.

Die Frau ist ganz nach meiner Phantasie. So um die 30 und überall sehr drall. Sie trägt ein Kleid mit roten Rosen und großen Brüsten. Das Rot der Rosen ist von ganz vollendetem schlechten Geschmack, ganz grell und beißt sich mit dem Rot des Lippenstifts, ein Signalrot für Alarmstufe 3.

Das passt gut, denn ihr Kleid ist sehr eng, mindestens zwei Nummern zu klein und die kleinen Speckfalten drückten sich deutlich ab und oben quellen zwei wunderschöne Brüste über den engen Ausschnitt, jede so zwei Handvoll groß. Und am unteren Ende des Kleides spannt der Hintern und vorn am Schamhügel wirft der Stoff phantasievolle Falten.
Es ist sicher eine Erleichterung, denke ich mir, wenn ihr jemand das enge Futteral auszieht, was ich sofort mit den Augen mache. Sie hat nichts dagegen und ich sehe durch den Stoff die knubbligen Beine und kräftigen Schenkel, die in einem dieser Schlabber-Slips enden, die gut geeignet sind für Handgriffe.

„Na, was haben Sie denn wieder Schönes?“ fragt sie und ich gebe ihr den Zettel und einen Kuss auf die Schulter und sage ihr, dass ich sie im 5. Stock sehr vermisst habe zwischen all diesen Briefen von Selbstmördern und Bankdirektoren.

Sie weiß, dass sie mir nun den Rücken zudrehen muss, so steht es in den Frauen-Romanen. So kann ich ihr von hinten um die Taille fasse, nach oben streiche, wie es sich gehört für einen wilden Knaben, der das Röslein bricht, und sie sagt: „Nicht doch.“ und schaut mir in die Augen, so tief, dass ich es in der Hose spüre.

„Wenn nun jemand reinkommt?“ sagt sie. „Ich habe den Hebel umgelegt an der Tür“, sage ich und sie nimmt den Stapel Zettel, auf denen die Lücken-Füller stehen für die Maschinen und sie sagt: „Das ist aber ein dicker Stapel“, sagt sie und nimmt die Zettel mit den Brief-Bausteinen, legt sie in ihren Schoss und prüft einen nach dem anderen. „Sehen Sie mal“, sagt sie, „da haben Sie was vergessen.“ Sie hält mir den Zettel mit dem Fehler hin und ich beuge mich über sie und sie riecht nach 2 Liter Parfüm, vermischt mit ihrem Sexualgeruch, den ich mir wahrscheinlich nur einbilde.

„Bei diesem Schuldner müssen wir nicht so höflich sein,“ sage ich, „er verprügelt immer seine Frau. Unser Außendienst-Mitarbeiter schreibt, dass sie im Gesicht ganz blau und grün geschlagen ist.“ So schlimm, dass sogar dieser harte Eintreiber Stundung empfiehlt. Doch die Frau ist auch nicht ohne. Eine Nachbarin sagt, dass sie ihn neulich durch die Tür geschmissen hat, sie nennt es „kleine Bolzerei“.  „Na das ist ja eine lebhafte Ehe,“ sagt meine Schreibdame, „bei uns zu Hause passiert nie was.“

„Mögen Sie ein Bonbon“ und sie schiebt mir eins in den Mund. Sie steht dabei auf und ihre großen Brüste kommen in Griffnähe. Ich denke, sie müsste nun sagen „mein Mann versteht mich nicht“, dann könnte ich weiter machen. Sie sagt: “Mein Mann findet dies Kleid ja aufdringlich“. Noch besser, denke ich und sage: “Aber nein doch. Ich finde die Rosen sehr echt, besonders die Blüten“, sage ich und zeige mit dem Finger auf die echten Blüten direkt auf der Brust. „Finden Sie?“ fragt sie und am Brustansatz hat sie eine Gänsehaut. Es funktioniert, denke ich und umfasse leicht die Wölbung. Sie lehnt sich zurück und löst dabei den Automaten aus, der zum nächsten Stopp rattert. Sie fühlt sich von der Maschine ertappt und sitzt wieder ganz gerade und sagt: „Also bis zum nächsten Mal“ und ich denke, heute war ich schon weiter als gestern und sage: „Bis zum nächsten Mal“ und nach einer Pause „Ich hab da sehr gern angefasst.“ Sie schaut schnell auf die Maschine und alle Rosen haben wieder Dornen.
„Ihre Texte schreibe ich morgen“, sagt sie und ich küsse die Schreibdame noch mal auf den Hals und bedanke mich bei den Rosen an den Brüsten und sie sagt: „Bis morgen.“ Und sie lacht auf eine wirklich versaute Art.
Ich gehe wieder in den fünften Stock, ziemlich sauer auf diese Schuldner, die nicht zahlen und mir nur Arbeit machen.

Zurück im Büro. Dort schreibe ich noch einen Brief an meine augenblickliche Freundin, bei der es wirkungsvoller ist, wenn ich ihr was Schriftliches gebe, was Literaturähnliches, das sie vielleicht abhält, weiter fremd zu gehen.

Aber es ist schon kurz vor Feierabend und ich nehme mir vor, statt Brief eine Flasche Schnaps mit nach Hause zu nehmen und falls sie nicht da ist, kann ich ihn alleine trinken. Immer noch besser, sage ich mir, als wenn du wieder anfängst, Literatur zu schreiben.

„Also, dann bis morgen“ sagen die Bank-Angestellten zu einander und gehen nach Hause zu ihren Frauen. Die haben sicherlich alle rosa-fleisch-farbene Unterhosen an, während sie Kohlrouladen servieren, während der Mann von den bedenklichen Entwicklungen in der Gesellschaft redet, während die Frau sagt: „Ich habe etwas abgenommen, findest du nicht auch?“ und sie zeigt ihm Hüfte und Hintern und er fühlt: tatsächlich, sie hat da abgenommen.

„Was hältst du von einer Flasche Sekt, mein Schatz?“ sagt sie und er hält was davon. Beide wissen, das ist der Start in ihr heißes Wochenende. Es fängt mit Sekt an und bald träumen beide von Tarzan, sie unten und er oben.

Die Bank war zufrieden mit mir, bot gar einen richtigen Arbeitsvertrag an. Aber das wäre doch wirklich das Letzte, wenn ich am Ende bei einer Bank landen würde.

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1965: Jahreschronik

Vietnam, Rüstung, Adenauer-Staat, Proteste gegen Amerikaner, alte Nazis.

Aber es kommen neue Zeiten, die alt-deutsche Gesellschaft wird angeknabbert durch internationale Musik, Beat, eine globalisierte Gesellschaft. Und was wichtiger ist: die Jugend wird Wirtschafts-Faktor und sehr schnell steigt der Kapitalismus ein in die neue Bewegung. Sie nennen es Untergrund-Musik und sexuelle Revolution und machen Umsatz.
Nur etwa 15 % der Jugend macht mit, das ergibt eine Sinus-Studie, aber bei dem Studenten-Aufruhr sind es auch nicht mehr. Ist vielleicht nicht nötig, denn anderes als bei den linken Demos laufen hier auch die Söhne der Gerichts-Präsidenten und der Professoren mit bei der Demo und die kann man nicht so einfach zusammenkeilen.

Ringsum scheint die alte Welt noch heil, aber es gibt Anzeichen für Zerfall. Weiterlesen

1975: Der Betriebsrat und die Betriebsfeier

1975 arbeite ich in einer Firma, die Schilder herstellt und bin Betriebsrat. Am Morgen dieses kalten Wintertags bleiben die Werktore ge­schlossen. Gleich am Eingang sagt es der Geschäftsführer den Mitarbeitern und die wollen es zuerst gar nicht glauben. Sie sehen hinter den Fenstern die Herren von der Geschäftsleitung herumlaufen, telefonieren. Die schicken den Betriebsrat vor, da mal nachzufühlen. Vielleicht ist der Chef abgestürzt mit seinem Sportflugzeug, vielleicht hat er die Firma verkauft, gedroht hat er schon öfter. „Was soll der Unsinn?“ fragt der Betriebsrat.

Unsinn sei das nun gerade nicht, die Leitung verbittet sich das. „Was soll denn dann die Aussperrung?“ fragt der Betriebsrat.  Aussperrung ist es auch nicht. Die Herren haben ernste Gesichter.

Draußen ist auch Kälte. Die Kollegen kommen in der Kantine der Nachbarfirma unter, da ist es warm, da warten sie auf das Erscheinen des Hauptchefs aus Hannover. Was war da bloß geschehen?

Im kleinen Konferenzsaal haben sich die Herren der Leitung versammelt. Die Szene ist aufgebaut wie das Jüngste Gericht. Der Chef sitzt am Kopfende des langen Tischs, zur Rechten wie zur Linken die Unterchefs, auf allen Gesichtern ist Weltuntergang.

Die Herren von der Berliner Leitung haben Gesichter wie Heulen und Zähneklappern und Schreibblöcke vor sich, auch ein Tonbandgerät. Diese Sitzung wird festgehalten für die Ewigkeit.

Der Chef hat zumindest seine Herren überzeugt, wie gefährlich er ist, wie er zuschlagen wird gegen diesen Betriebsrat. Wie er draufhauen wird, Wumm, wird er draufhauen.

Jetzt ist der Betriebsrat geliefert. Soll ich Ihnen mal sagen, was ich machen werde, sagt der Chef: Ich schmeiße diese roten Kerle alle raus, das werde ich machen.

Er hat diesen Betrieb mit eigenen Händen aufgebaut. Er lässt sich das nicht kaputt machen von dem linken Gesindel, „verstehen Sie das?“ fragt er seine Unter-Chefs. Die verstehen das.

Die drei Betriebsräte werden hereingerufen müssen stehen vor dem Tisch, an dem die Geschäftsleitung sitzt, hinter einer Mauer von Entschlossenheit.

Die Betriebsräte betreten den Raum und sagen „Guten Morgen“.

Die Herren sind verdutzt, schauen den Chef an. Ist das wieder so ein Trick von diesem Betriebsrat? Was ist das? Warum stottern diese Kerle nicht rum?

Dann sagt der Chef „Guten Morgen“ und danach sagen alle Herren von der Berliner Leitung „Guten Morgen“.

Die Betriebsräte packen ihre Taschen aus. “Hast du einen Bleistift?“ fragt der eine, „möchtest du einen Bonbon?“ fragt der andere. Nein danke, nichts Süßes so früh am Morgen.

Das Jüngste Gericht wird ungeduldig. Setzen Sie sich, sagt der Chef.

„Setzen wir uns doch“, sagen die Betriebsräte.

„Meine Herren“, sagt der Chef mit stahlhartem Blick. So was lässt dem Gegner den kalten Schauer den Rücken runterlaufen, wenn es gut gemacht wird.

„Meine Herren“, sagt der Chef schneidend, „ich verlange Ihren sofortigen Rücktritt.“

Peng, das sitzt!

Die Herren der Leitung schauen auf die drei Sünder.

„Warum?“ fragte der Betriebsratsvorsitzende.

„Was warum?“ fragte der Chef.

„Warum verlangen Sie unseren Rücktritt?“

Wie soll sich ein Chef nun verhalten bei solch unsinnigen Fragen? Er geht einfach drauf ein.

„Wegen der gestrigen Vorkommnisse“ sagt der Chef: Wo bleibt das Geständnis?

„Welche Vorkommnisse?“ fragt der Betriebsrat.

„Ich verlange Ihren Rücktritt“, brüllt der Chef. Eigentlich soll ja ein Chef nie brüllen, aber er ist ja auch bloß ein Mensch. Alle Herren der Geschäftsleitung wechseln das Gesicht von ernst auf zornig.

„Wegen der gestrigen Vorkommnisse“, brüllt der Chef. „Der ganze Betrieb war besoffen“, brüllt er. „Sie haben das gefördert“, brüllt er. „Alles ist kaputt, es gab eine Messerstecherei. Ich verlange Ihren Rücktritt!“

Er ist sehr überzeugend in seinem Zorn.

„Welche Paragrafen?“ fragt der BR. „Was?“ fragt der Chef. „Welche Paragrafen?“ fragt der BR. „Wieso? Welche Paragrafen?“ fragt der Chef.

„Gegen welche Paragrafen haben wir verstoßen?“ fragt der BR.

Der Chef stutzt. Was fragt ein gerechter Zorn nach Paragrafen, fragt er sich.

Andererseits: Er hat nun schon zu viele Prozesse verloren.

Er schaut seine Leute an, aber die sagen auch nicht wie diese Paragrafen heißen, dafür machen sie sich eifrig Notizen, den Kopf eingezogen.

Nun gut. Der Chef wird diese Paragrafen eben selber finden. „Wollen Sie etwa bestreiten, dass gestern getrunken wurde?“ fragt er drohend.

„Haben wir getrunken?“ fragt der Betriebsrat. „Haben Sie nun getrunken? Sie haben das nicht verhindert“, ruft der Chef, „auch nicht die Messer­stecherei, Tische wurden  umgeworfen, Stühle, einige waren so betrunken, dass sie bei den Kunden nur noch gelallt haben….“

Fassen wir also zusammen, sagt der BR. Sachbeschädigung, Körperverletzung, Saufen am Arbeitsplatz, alles Verstoß gegen die Betriebs-Ordnung, alles Kündigungsgründe. „Richtig“ sagt der Chef.

„Wer von uns hat Sachen beschädigt?“ fragt der BR. „Herr Abteilungsleiter“ sagt der Chef, „Wer hat welche Sachen beschädigt?“ „Ah“ sagt der Abteilungsleiter. „wer genau das war, kann ich nicht sagen, aber Tische wurden umgeworfen, Werte wurden zerstört. Einige haben gelallt…der Betrieb sieht aus wie ein Saustall“, sagt der Abteilungsleiter.

Der Chef hat eine Idee. Vielleicht sollten sich alle mal den Saustall ansehen, damit alle sehen, wie es aussieht, was ihm am Telefon beschrieben wurde.

Der Chef und sein Gefolge betreten die große Fertigungshalle.

Es ist sehr kalt. Gleich vorne um den Packtisch liegen unzählige Zigarettenkippen am Boden, Glasscherben.

Der Chef spricht in das Mikrofon seines Tonbandgeräts: „Ich befinde mich am Packtisch. Rings um den Tisch liegen ein, zwei, äh, 6, liegen 11 Kippen, drei leere Bierflaschen. Richtig?“

„Richtig“, sagt der Betriebsrat.

„Hier ist noch ein kaputtes Glas“, sagt ein BR.

„Das ist nur ein Glasboden“,  korrigiert ein anderer BR.

Der Chef kennt diese Tricks, er geht gar nicht drauf ein, er geht zur Schlosserei.

Da stehen nun besonders viele Flaschen herum, liegen besonders viele Kippen am Boden, denn die Schlosser sind im Betrieb bekannt für Saufen und Rauchen und bei der gestrigen Feier waren sie wieder vornweg.

Der Chef sagt ins Mikrofon: „Ich befinde mich nun in der Schlosserei. Hier liegt eine zerbrochene Bierflasche, hier stehen viele leere Bierflaschen. Richtig meine Herren“?  fragt er. „Richtig“, sagen die Betriebsräte.

„Äh“, sagt der Berliner Betriebsleiter. Die Herren warten. Der Berliner Betriebsleiter ist ein guter Betriebsleiter, aber die Herren wissen, wie langsam er ist. Wenn er „äh“ sagt, will er etwas sagen. Die Herren warten.

„Dies sind gebrauchte Pfosten“, sagt der Betriebsleiter. Sehen Sie sich das an, ruft der Chef. Er hat eine Schnaps­flasche gefunden.

Alle Herren sehen sich das an. Es ist eine Schnapsflasche.

„Hier liegen besonders viel Scherben herum“, sagt der Chef ins Mikrofon, „bitte überzeugen Sie sich selbst.“

Alle überzeugen sich selbst: Es liegen besonders viele Scherben herum.

Dann fragt der Chef den Betriebsrat zum letzten Mal, ob dieser zurücktreten will. Falls nämlich nicht, wird er nämlich das Gewerbeaufsichtsamt holen, sagt er. „Gut“, sagt der BR, „holen Sie das Gewerbeaufsichtsamt!“ „Herr Abteilungsleiter“, sagt der Chef und seine Augen blitzen. „Holen Sie das Gewerbeaufsichtsamt.“

Während die Herren warten, lässt sich der Chef berichten, wie gestern hier, in seinem Betrieb gesoffen wurde. Schon am Mittag hatte es angefangen, erst Bier, dann Schnaps, dann mehr Schnaps, dann mehr Bier, dann diese Messerstecherei.

„Erzählen Sie“ sagt der Chef.

„Das war so“ sagt Herr P. „Ein dicker Arbeiter ist hinter diesem Angestellten hergelaufen mit einem Messer und hat gerufen: Ick stech dir ab! Der Angestellte war viel schneller und hat gerufen: Komm doch, du Fettwanst! Die anderen haben beide angefeuert.

Der Chef ist entsetzt. Mord und Totschlag in seinem Betrieb, den er mit seinen eigenen Händen aufgebaut hat, all die Jahre, Subventionen hat er locker gemacht dafür, geschuftet auch… „Das war sicherlich ein Scherz“, sagt ein Betriebsrat. „Ein schöner Scherz!“ ruft der Chef und fordert alle auf, zurückzutreten als Betriebsrat.

Dann kommt die Gewerbepolizei.

Sie ist nicht das erste Mal hier, sie kennt den Betrieb. Der Betriebs­rat hat schon den Chef angezeigt und der hat seitdem eine hohe Meinung von der Gewerbepolizei. Nun wird es anders rum gehen, denkt er. Nun wird bald der Betriebsrat eine hohe Meinung haben von der Gewerbepolizei.

„Sehen Sie sich das an“ sagt der Chef. Der Herr im grauen Anzug sieht es sich an. „Da gings ja hoch her“, sagt er.

„Und der Betriebsrat hat zugeschaut“, ruft der Chef. „Nun will er nicht zurücktreten“.

„Was haben wir damit zu tun?“ fragt die Gewerbeaufsicht.

„Hier ist Trinken und Rauchen verboten“, sagt der Chef.

„Was sagen Sie dazu?“ fragt die Gewerbeaufsicht den Betriebsrat.

„Wir haben gewartet mit der Feier, bis der Betriebsleiter drei Cognac getrunken hatte. Danach konnten wir den Leuten das Trinken schlecht verbieten, was wir ja ohnehin nicht können.“

„Was sagen Sie denn dazu?“ fragt der Chef den Betriebsleiter.
„Äh“, sagt der, „äh. So ein, zwei hab ich schon mitgetrunken“.

Das Schweigen ist peinlich. Alle Herren überlegen nun. Es ist eine verzwickte Sache. Der Chef hat recht, das steht fest, aber was geht das den Betriebsrat an?

„Sie sind für die Ordnung im Betrieb verantwortlich“, sagt die Gewerbepolizei zum Betriebsleiter. „Sie müssen das Alkoholtrinken verhindern, Sie sind der Hausherr“, sagt die Gewerbeaufsicht.

Sie spricht eine gebühren­pflichtige Verwarnung aus von 5oo Mark gegen die Geschäftsleitung, weil in den Räumen das Rauchen und Trinken verboten ist und trotzdem geraucht und getrunken wurde.

„Der Betriebsrat hat doch mitgetrunken“, ruft der Chef, „der hat dem Geschäfts­führer doch eine Falle gestellt“, ruft der Chef und „nachdem der getrunken hat, haben  sie gesagt: nun dürft ihr auch…“

„Das stimmt“, sagt der Betriebsrat. Die Leute haben erst gefeiert, als ihr Betriebsleiter mit gutem Beispiel vorangegangen ist.

„Sie hören noch von uns“ sagt die Gewerbepolizei und geht.

Nachgeschichte: Der Chef besteht darauf, dass jeder Arbeitnehmer eine schriftliche Erklärung abgibt, dass er nicht mehr trinken wird im Betrieb. Niemand unterschreibt. Daraufhin wird ein Aushang gemacht fürs Schwarze Brett, dass niemand mehr trinken darf im Betrieb. Damit ist der Betriebsfrieden wiederhergestellt.

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