Eine europäische Biografie

Schlagwort: Betriebsrat

1975: Der Betriebsrat und die Betriebsfeier

1975 arbeite ich in einer Firma, die Schilder herstellt und bin Betriebsrat. Am Morgen dieses kalten Wintertags bleiben die Werktore ge­schlossen. Gleich am Eingang sagt es der Geschäftsführer den Mitarbeitern und die wollen es zuerst gar nicht glauben. Sie sehen hinter den Fenstern die Herren von der Geschäftsleitung herumlaufen, telefonieren. Die schicken den Betriebsrat vor, da mal nachzufühlen. Vielleicht ist der Chef abgestürzt mit seinem Sportflugzeug, vielleicht hat er die Firma verkauft, gedroht hat er schon öfter. „Was soll der Unsinn?“ fragt der Betriebsrat.

Unsinn sei das nun gerade nicht, die Leitung verbittet sich das. „Was soll denn dann die Aussperrung?“ fragt der Betriebsrat.  Aussperrung ist es auch nicht. Die Herren haben ernste Gesichter.

Draußen ist auch Kälte. Die Kollegen kommen in der Kantine der Nachbarfirma unter, da ist es warm, da warten sie auf das Erscheinen des Hauptchefs aus Hannover. Was war da bloß geschehen?

Im kleinen Konferenzsaal haben sich die Herren der Leitung versammelt. Die Szene ist aufgebaut wie das Jüngste Gericht. Der Chef sitzt am Kopfende des langen Tischs, zur Rechten wie zur Linken die Unterchefs, auf allen Gesichtern ist Weltuntergang.

Die Herren von der Berliner Leitung haben Gesichter wie Heulen und Zähneklappern und Schreibblöcke vor sich, auch ein Tonbandgerät. Diese Sitzung wird festgehalten für die Ewigkeit.

Der Chef hat zumindest seine Herren überzeugt, wie gefährlich er ist, wie er zuschlagen wird gegen diesen Betriebsrat. Wie er draufhauen wird, Wumm, wird er draufhauen.

Jetzt ist der Betriebsrat geliefert. Soll ich Ihnen mal sagen, was ich machen werde, sagt der Chef: Ich schmeiße diese roten Kerle alle raus, das werde ich machen.

Er hat diesen Betrieb mit eigenen Händen aufgebaut. Er lässt sich das nicht kaputt machen von dem linken Gesindel, „verstehen Sie das?“ fragt er seine Unter-Chefs. Die verstehen das.

Die drei Betriebsräte werden hereingerufen müssen stehen vor dem Tisch, an dem die Geschäftsleitung sitzt, hinter einer Mauer von Entschlossenheit.

Die Betriebsräte betreten den Raum und sagen „Guten Morgen“.

Die Herren sind verdutzt, schauen den Chef an. Ist das wieder so ein Trick von diesem Betriebsrat? Was ist das? Warum stottern diese Kerle nicht rum?

Dann sagt der Chef „Guten Morgen“ und danach sagen alle Herren von der Berliner Leitung „Guten Morgen“.

Die Betriebsräte packen ihre Taschen aus. “Hast du einen Bleistift?“ fragt der eine, „möchtest du einen Bonbon?“ fragt der andere. Nein danke, nichts Süßes so früh am Morgen.

Das Jüngste Gericht wird ungeduldig. Setzen Sie sich, sagt der Chef.

„Setzen wir uns doch“, sagen die Betriebsräte.

„Meine Herren“, sagt der Chef mit stahlhartem Blick. So was lässt dem Gegner den kalten Schauer den Rücken runterlaufen, wenn es gut gemacht wird.

„Meine Herren“, sagt der Chef schneidend, „ich verlange Ihren sofortigen Rücktritt.“

Peng, das sitzt!

Die Herren der Leitung schauen auf die drei Sünder.

„Warum?“ fragte der Betriebsratsvorsitzende.

„Was warum?“ fragte der Chef.

„Warum verlangen Sie unseren Rücktritt?“

Wie soll sich ein Chef nun verhalten bei solch unsinnigen Fragen? Er geht einfach drauf ein.

„Wegen der gestrigen Vorkommnisse“ sagt der Chef: Wo bleibt das Geständnis?

„Welche Vorkommnisse?“ fragt der Betriebsrat.

„Ich verlange Ihren Rücktritt“, brüllt der Chef. Eigentlich soll ja ein Chef nie brüllen, aber er ist ja auch bloß ein Mensch. Alle Herren der Geschäftsleitung wechseln das Gesicht von ernst auf zornig.

„Wegen der gestrigen Vorkommnisse“, brüllt der Chef. „Der ganze Betrieb war besoffen“, brüllt er. „Sie haben das gefördert“, brüllt er. „Alles ist kaputt, es gab eine Messerstecherei. Ich verlange Ihren Rücktritt!“

Er ist sehr überzeugend in seinem Zorn.

„Welche Paragrafen?“ fragt der BR. „Was?“ fragt der Chef. „Welche Paragrafen?“ fragt der BR. „Wieso? Welche Paragrafen?“ fragt der Chef.

„Gegen welche Paragrafen haben wir verstoßen?“ fragt der BR.

Der Chef stutzt. Was fragt ein gerechter Zorn nach Paragrafen, fragt er sich.

Andererseits: Er hat nun schon zu viele Prozesse verloren.

Er schaut seine Leute an, aber die sagen auch nicht wie diese Paragrafen heißen, dafür machen sie sich eifrig Notizen, den Kopf eingezogen.

Nun gut. Der Chef wird diese Paragrafen eben selber finden. „Wollen Sie etwa bestreiten, dass gestern getrunken wurde?“ fragt er drohend.

„Haben wir getrunken?“ fragt der Betriebsrat. „Haben Sie nun getrunken? Sie haben das nicht verhindert“, ruft der Chef, „auch nicht die Messer­stecherei, Tische wurden  umgeworfen, Stühle, einige waren so betrunken, dass sie bei den Kunden nur noch gelallt haben….“

Fassen wir also zusammen, sagt der BR. Sachbeschädigung, Körperverletzung, Saufen am Arbeitsplatz, alles Verstoß gegen die Betriebs-Ordnung, alles Kündigungsgründe. „Richtig“ sagt der Chef.

„Wer von uns hat Sachen beschädigt?“ fragt der BR. „Herr Abteilungsleiter“ sagt der Chef, „Wer hat welche Sachen beschädigt?“ „Ah“ sagt der Abteilungsleiter. „wer genau das war, kann ich nicht sagen, aber Tische wurden umgeworfen, Werte wurden zerstört. Einige haben gelallt…der Betrieb sieht aus wie ein Saustall“, sagt der Abteilungsleiter.

Der Chef hat eine Idee. Vielleicht sollten sich alle mal den Saustall ansehen, damit alle sehen, wie es aussieht, was ihm am Telefon beschrieben wurde.

Der Chef und sein Gefolge betreten die große Fertigungshalle.

Es ist sehr kalt. Gleich vorne um den Packtisch liegen unzählige Zigarettenkippen am Boden, Glasscherben.

Der Chef spricht in das Mikrofon seines Tonbandgeräts: „Ich befinde mich am Packtisch. Rings um den Tisch liegen ein, zwei, äh, 6, liegen 11 Kippen, drei leere Bierflaschen. Richtig?“

„Richtig“, sagt der Betriebsrat.

„Hier ist noch ein kaputtes Glas“, sagt ein BR.

„Das ist nur ein Glasboden“,  korrigiert ein anderer BR.

Der Chef kennt diese Tricks, er geht gar nicht drauf ein, er geht zur Schlosserei.

Da stehen nun besonders viele Flaschen herum, liegen besonders viele Kippen am Boden, denn die Schlosser sind im Betrieb bekannt für Saufen und Rauchen und bei der gestrigen Feier waren sie wieder vornweg.

Der Chef sagt ins Mikrofon: „Ich befinde mich nun in der Schlosserei. Hier liegt eine zerbrochene Bierflasche, hier stehen viele leere Bierflaschen. Richtig meine Herren“?  fragt er. „Richtig“, sagen die Betriebsräte.

„Äh“, sagt der Berliner Betriebsleiter. Die Herren warten. Der Berliner Betriebsleiter ist ein guter Betriebsleiter, aber die Herren wissen, wie langsam er ist. Wenn er „äh“ sagt, will er etwas sagen. Die Herren warten.

„Dies sind gebrauchte Pfosten“, sagt der Betriebsleiter. Sehen Sie sich das an, ruft der Chef. Er hat eine Schnaps­flasche gefunden.

Alle Herren sehen sich das an. Es ist eine Schnapsflasche.

„Hier liegen besonders viel Scherben herum“, sagt der Chef ins Mikrofon, „bitte überzeugen Sie sich selbst.“

Alle überzeugen sich selbst: Es liegen besonders viele Scherben herum.

Dann fragt der Chef den Betriebsrat zum letzten Mal, ob dieser zurücktreten will. Falls nämlich nicht, wird er nämlich das Gewerbeaufsichtsamt holen, sagt er. „Gut“, sagt der BR, „holen Sie das Gewerbeaufsichtsamt!“ „Herr Abteilungsleiter“, sagt der Chef und seine Augen blitzen. „Holen Sie das Gewerbeaufsichtsamt.“

Während die Herren warten, lässt sich der Chef berichten, wie gestern hier, in seinem Betrieb gesoffen wurde. Schon am Mittag hatte es angefangen, erst Bier, dann Schnaps, dann mehr Schnaps, dann mehr Bier, dann diese Messerstecherei.

„Erzählen Sie“ sagt der Chef.

„Das war so“ sagt Herr P. „Ein dicker Arbeiter ist hinter diesem Angestellten hergelaufen mit einem Messer und hat gerufen: Ick stech dir ab! Der Angestellte war viel schneller und hat gerufen: Komm doch, du Fettwanst! Die anderen haben beide angefeuert.

Der Chef ist entsetzt. Mord und Totschlag in seinem Betrieb, den er mit seinen eigenen Händen aufgebaut hat, all die Jahre, Subventionen hat er locker gemacht dafür, geschuftet auch… „Das war sicherlich ein Scherz“, sagt ein Betriebsrat. „Ein schöner Scherz!“ ruft der Chef und fordert alle auf, zurückzutreten als Betriebsrat.

Dann kommt die Gewerbepolizei.

Sie ist nicht das erste Mal hier, sie kennt den Betrieb. Der Betriebs­rat hat schon den Chef angezeigt und der hat seitdem eine hohe Meinung von der Gewerbepolizei. Nun wird es anders rum gehen, denkt er. Nun wird bald der Betriebsrat eine hohe Meinung haben von der Gewerbepolizei.

„Sehen Sie sich das an“ sagt der Chef. Der Herr im grauen Anzug sieht es sich an. „Da gings ja hoch her“, sagt er.

„Und der Betriebsrat hat zugeschaut“, ruft der Chef. „Nun will er nicht zurücktreten“.

„Was haben wir damit zu tun?“ fragt die Gewerbeaufsicht.

„Hier ist Trinken und Rauchen verboten“, sagt der Chef.

„Was sagen Sie dazu?“ fragt die Gewerbeaufsicht den Betriebsrat.

„Wir haben gewartet mit der Feier, bis der Betriebsleiter drei Cognac getrunken hatte. Danach konnten wir den Leuten das Trinken schlecht verbieten, was wir ja ohnehin nicht können.“

„Was sagen Sie denn dazu?“ fragt der Chef den Betriebsleiter.
„Äh“, sagt der, „äh. So ein, zwei hab ich schon mitgetrunken“.

Das Schweigen ist peinlich. Alle Herren überlegen nun. Es ist eine verzwickte Sache. Der Chef hat recht, das steht fest, aber was geht das den Betriebsrat an?

„Sie sind für die Ordnung im Betrieb verantwortlich“, sagt die Gewerbepolizei zum Betriebsleiter. „Sie müssen das Alkoholtrinken verhindern, Sie sind der Hausherr“, sagt die Gewerbeaufsicht.

Sie spricht eine gebühren­pflichtige Verwarnung aus von 5oo Mark gegen die Geschäftsleitung, weil in den Räumen das Rauchen und Trinken verboten ist und trotzdem geraucht und getrunken wurde.

„Der Betriebsrat hat doch mitgetrunken“, ruft der Chef, „der hat dem Geschäfts­führer doch eine Falle gestellt“, ruft der Chef und „nachdem der getrunken hat, haben  sie gesagt: nun dürft ihr auch…“

„Das stimmt“, sagt der Betriebsrat. Die Leute haben erst gefeiert, als ihr Betriebsleiter mit gutem Beispiel vorangegangen ist.

„Sie hören noch von uns“ sagt die Gewerbepolizei und geht.

Nachgeschichte: Der Chef besteht darauf, dass jeder Arbeitnehmer eine schriftliche Erklärung abgibt, dass er nicht mehr trinken wird im Betrieb. Niemand unterschreibt. Daraufhin wird ein Aushang gemacht fürs Schwarze Brett, dass niemand mehr trinken darf im Betrieb. Damit ist der Betriebsfrieden wiederhergestellt.

1975: Der Betriebsrat und der Lackierer

Die Fabrik in Berlin, in der ich 1975 arbeite, stellt Verkehrsschilder her aus Alu-Blech und Reflektionsfolie und Einbrennlack, feuergefährliches Zeug und deswegen gibt es jede Menge Sicherheitsvorschriften. Außerdem gibt es Stanzen und Biegebänke, Siebdruckrahmen, eine Lackiererei und 25 Mitarbeiter.

Der Betriebsrat hat in den letzten Jahren soviel Prozesse geführt gegen die Geschäftsleitung, dass die Gewerkschaft einen eigenen Sekretär hält für Prozesshilfe.

Alle Prozesse hat der Boss verloren.

Wie der Abteilungsleiter zeigt, wer wem was zu sagen hat.

Vorgeschichte 1: Am Vortag hat der Lackierer ein Thermometer in den Brennofen gelegt. Als es zerschmolzen war, tat es ihm leid, dann hat er es weggeworfen. Der Abteilungsleiter glaubt natürlich kein Wort von dieser Geschichte. Er glaubt, dass der Lackierer das Thermometer gestohlen hat. Er kennt doch seine Arbeiter. „Die klauen alle“, weiß er aus Erfahrung.

Vorgeschichte 2: In den Hallen verdrucken die Maschinen feuer­gefährliche Farben. Rauchen ist deswegen streng verboten. Das gilt auch für betrunkene Mitarbeiter. Trinken ist übrigens auch streng verboten. Das weiß auch der betrunkene Lackierer.

Ein kluger Chef wird daraus nie einen Zweikampf machen. In dieser Geschichte ist aber von unklugen Chefs die Rede.

Heute ist ein heißer Sommertag. Alle Maschinen laufen. Es ist sehr laut in der Halle, es ist langweilig, es ist noch lange hin bis Feierabend. Wie können wir den Tag herumbekom­men außer mit Arbeit?

Unser Lackierer sitzt mit baumelnden Beinen auf einem Tisch und schaut zu, wie die kleine dralle  Martina an der Stanze arbeitet. Mit ihrem kur­zen Röckchen legt sie im Rhythmus der Maschine Folien in die Maschine und die Stanze, rumms, saust runter und Martina schwingt die Hüfte und legt die nächste Folie ein und, rumms, macht die Maschine und Martina bückt sich, damit der Lackierer, so glaubt er, besser unter den Roch schauen kann und legt die nächste Folie ein. Das ist sicher eine gute Art, den Feierabend zu erreichen, nicht wahr?

Genüsslich zieht der Lackierer an seiner Zigarette. Er ist sehr be­trunken. Sein farbverschmierter Lackier-Kittel ist offen über der Brust. Er nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche. Nun kommt die Tragödie.

Der Abteilungsleiter kommt in die Halle. Sofort ist er im Bilde: der Lackierer hat hier nichts zu suchen. Die brennende Zigarette, die windschiefe Haltung. Der Mann ist betrunken, der Mann raucht, wo er nicht rauchen darf! Die Ordnung muss wieder hergestellt werden. „Herr Lackierer“, sagt der Abteilungsleiter, „Rauchen ist hier verboten!“

Ein guter Untergebener wird nun zusammen zucken, die Zigarette verstecken, sie wenigstens aus dem Mund nehmen, wird herumstottern, wird zei­gen, wie peinlich ihm das ist, wird murmeln: „Jawohl Herr Chef, soll nicht wieder vorkommen.“

Der Chef wird dann wissen, wer der Chef ist, wird Gnade walten lassen, weil er den Lackierer ja braucht.

Eigentlich ist der Lackierer ein guter Untergebener. Aber heute ist er, leider, betrunken und er hat die Regeln vergessen, die für Unter­gebene gelten. Er schaut weiter zu, wie die Kleine stanzt, pro Folie hebt sich einmal der Rock. Er raucht weiter, er ist weiter betrunken.

Nun wird aus dem Vorfall eine Prestige-Frage für den Abteilungsleiter. Hier hat nur er was zu sagen, oder nicht? fragt er sich.

Auch die anderen Beschäftigten in der Halle würden das mal gerne wissen. Sie stehen nun um die Beiden herum und möchten doch mal wissen, wer hier das Sagen hat.

In vollem Vertrauen auf die Selbsterhaltungstriebe seines Untergebenen, siegesgewiss, erhebt der Abteilungsleiter die Stimme, bis jeder sie hört: „Herr Lackierer!!“, kleine Pause.  „Verlassen Sie sofort die Halle!“

Angeekelt von der Störung, nimmt der Lackierer den Blick von der Stanze und richtet ihn gelassen, wenn auch glasig, auf seinen Vorgesetzten: „Iss wat?‘ fragt er.

Die Zuschauer kommen gespannt näher. Sollte dies die Art sein, wie wir ohne zu arbeiten den Feierabend erreichen? Ein Drama vor der Stanze?

Wir wollen doch mal sehen, wie nun der Abteilungsleiter das Gesicht wahrt. Der Chef versucht es zuerst mal mit einer Drohung.

„Herr Lackierer!!“ ruft er drohend: „Verlassen Sie die Halle! Sie haben hier nichts zu suchen!“  „Wat iss?“ fragt der Lackierer mit proletarischer Gelassenheit und nimmt einen Schluck.

Was soll der Abteilungsleiter nun tun? Natürlich wird er den Kerl ent­lassen, später. Aber es sind Sofortmaßnahmen nötig, hier und jetzt.

Wie bekommt man einen unverschämten Arbeiter dazu, die höhere Gehaltsgruppe zu respektieren?  Er versucht es über die, wie er glaubt, ungeschützte Flanke. Vielleicht hofft er, der Lackierer würde, wenn schon nicht am verbotenen Zigarettenqualm, dann doch wenigstens am schlech­ten Gewissen ersticken. „Das Thermometer haben Sie auch gestohlen!“ ruft er.

Doch das ist ein schwerer Fehler. Ein Arbeiter muss sich immer im Un­recht fühlen. Willst du Führungskraft sein, mach nie den Fehler, gerechten Zorn zu provozieren.

Der Lackierer ist sofort sehr zornig, richtig entrüstet ist er. Runter vom Tisch springt er und ruft: „Det nehm’se sofort zurück! Det ick ein Dieb sein soll“, ruft er sehr entrüstet. Ein ehrlicher Lackierer hat er es nicht nötig, sich Dieb nennen zu lassen. Das hat er bestimmt nicht nötig. Ist er ein Mensch oder ist er kein Mensch? fragt sich der Lackierer.

„Det nehm’se sofort zurück, det ick ein Dieb sein soll  Nehm’se det zurück? Det nimmste sofort zurück!“ ruft er bis ins Innerste entrüstet.

Der Abteilungsleiter versucht wieder sicheren Boden zu erreichen: die geltenden Vorschriften. „Hier ist Rauchen verboten! Das ist ein Kündigungsgrund! Verlassen Sie die Halle, Herr Lackierer!“

Die Zuschauer machen einen Kreis um die Streithähne. Das hier ist wirklich Action, ein echter Revierkampf: Leithirsch verteidigt Revier gegen Eindringling aus unter­ster Lohnstufe! Und der Lackierer bleibt weiter im Angriff. „Nimmste det zurück?!“ ruft er und geht einen Schritt auf den Verleumder zu. Er ist ganz offensichtlich schwer an der Ehre getroffen.

Ist die Würde des Menschen unantastbar oder ist sie das nicht? Ist ein Lackierer ein Mensch oder nicht? „Nimmste det zurück!“

Der Abteilungsleiter denkt nicht daran. Im Gegenteil: Ist hier Rauchen verboten!

„Det nimmste zurück, du schwule Sau!“ ruft der Lackierer. Schwul, das galt, warum auch immer, damals auch noch als Beleidigung.,

Nun steht Ehre gegen Ehre. „Was haben Sie gesagt?“ fragt der Abteilungsleiter. Er traut seinen Ohren nicht. „Nimm det zurück!“ ruft der Lackierer.

„Das ist eine Beleidigung!“ ruft nun der Abteilungsleiter.

Jeder weiß es nun: der Abteilungsleiter ist beleidigt.

„Sie sind ja besoffen!„ ruft der beleidigte Abteilungsleiter.

Er nimmt den Lackierer nicht ernst, das ist ein schwerer Fehler.

„Wenn de det nich zurücknimmst, denn hau ick dir wat ins Kreuze“, ruft der Lackierer.

Das ist Spitze! Wer von uns hätte das gedacht, als er heute Morgen die Stempel-Karte gedrückt hat. Vielleicht erleben wir noch ein echtes Duell. Der Lackierer ist stärker, aber der Chef ist schneller, weil nüchtern. Die Zuschauer wetten auf den Lackierer.

Der geht, etwas schwankend, aber sehr entschlossen zu einem Regal. Dort liegt ein Brecheisen, mit dem üblicher­weise Kisten aufgebrochen werden. Natürlich kann man damit auch Abteilungsleiter aufbrechen. Der erkennt das sofort.

Ganz zufällig geht er zu einer Tür, die in einen Neben­raum führt. Sie ist leicht zu verteidigen, hat aber den Nach­teil, dass es sonst keinen Ausgang aus dem Raum gibt. Das weiß auch der Lackierer. Er stellt sich vor die Tut, die Brechstange in der Faust, die Zigarette ist ihm runtergefallen. Er ruft: „Ick hau dir wat ins Kreuze!“

Der Abteilungsleiter versucht eine Ablenkung. Durch die Tür sehen alle, dass er auf die Uhr schaut. Sicherlich hat er einen wichtigen Termin. Er sorgt sich um die Sicherheit unserer Arbeitsplätze und hat Besseres zu tun, als sich mit Besoffenen zu streiten, soll das heißen.

„Komm raus, du Sau! „ruft der Lackierer. Er ist sehr überzeugend, wie er da steht vor der Tür, der  Bart gesträubt, der Kittel offen über der nackten Brust, die Brechstange in der Faust,  Empörung im Herzen, die Arbeiterklasse im Rücken und auch die Menschenrechte.

„Komm raus!“ ruft er. Der Abteilungsleiter denkt nicht daran. Ein Arbeitskollege hält die Spannung nicht mehr aus. „Mach dir nich unglücklich, Klaus!“, ruft er. Er hält den Lackierer am Arm fest. Als Klaus merkt, dass er festgehalten wird, ist er kaum noch zu halten. „Halt mir fest, sonst hau ick dem wat ins Kreuze!“ ruft er und zwei weitere Kollegen halten ihn fest. Er lässt sich, als Sieger, als Rächer der Ausgebeuteten, das Brecheisen aus der Hand nehmen.  Er hat diesem Kerl von Abteilungsleiter gezeigt, was Mitbestimmung ist. Vielleicht lässt auch bloß der Alkohol nach.

Laut schimpfend geht der Lackierer in die Lackiererei, wo das Rauchen besonders streng verboten ist, und raucht erstmal eine Zigarette.

Inzwischen hat der Abteilungsleiter das rettende Büro erreicht und er entlässt sofort den Lackierer, fristlos, auf der Stelle. Er will doch mal sehen, wer hier das Sagen hat, er oder so ein besoffener Kerl, der nicht mal halb soviel verdient.

Inzwischen weiß natürlich der ganze Betrieb Bescheid. Der Betriebsleiter kommt ins Büro, die Sachbearbeiter, der Betriebsrat wird gerufen. „Der fliegt!!“ ruft der Abteilungsleiter. Der Betriebsleiter stimmt ihm sofort zu.

Das macht den Abteilungsleiter misstrauisch, denn er möchte selber Betriebsleiter werden und deswegen ist er verfeindet mit dem Betriebsleiter. Warum stimmt er zu? Wo ist der Trick?

Trotzdem: „Der Kerl fliegt!“ ruft er. Alle anwesenden Untergebenen stimmen ihm zu.

Leider muss man vorher den Betriebsrat fragen. Es gibt bereits mehrere Arbeitnehmer im Betrieb, die der Abteilungsleiter im ersten Zorn entlassen hat und die vor Gericht recht bekommen haben. Bloß keine Formfehler mehr!

Der Betriebsrat bestätigt, wie sehr der Abteilungsleiter im Recht ist. Das geht nun wirklich auf keine Kuhhaut, sagt er, seinen Vorgesetzten eine schwule Sau zu nennen. „Wie kommet er denn da drauf?“ fragt der Betriebsrat. „Ja, wie kommt der denn da drauf?“ fragt auch der Betriebs­leiter. Steckt da irgendwas dahinter?

„Besoffen ist der Kerl“ sagt der Abteilungsleiter, voll wie’n Pisstopp“. Und geraucht hat der Kerl, wo er nicht darf. Alle versichern dem Abteilungsleiter wie sehr die Vorschriften auf seiner Seite sind.

Was ist denn nun mit dem Diebstahl?‘ fragt der Betriebsrat.

„Er das Thermometer geklaut!“ sagt der Abteilungsleiter. Ob es denn Beweise gibt dafür, fragt der Betriebsrat.

„Das ist doch klar!“ sagt der Abteilungsleiter. Nie und nimmer hat er das Thermometer zerschmolzen und wenn, dann bestimmt mit Absicht. Ja, der Abteilungsleiter kennt seine Untergebenen.

„Wie kommt der bloß auf schwule Sau?“ fragt der Betriebsleiter.

„Der fliegt fristlos!“ sagt der Abteilungsleiter. „Das wird einen Prozess geben“ sagt der Betriebsrat. „Vorgesetzter nennt Untergebenen Dieb, der nennt ihn schwule Sau. Wer weiß, wie der Richter das sieht?“

„Der fliegt!“   „Es bleibt immer was hängen“ sagt der Betriebsrat. „Sie wissen ja, wie die Leute sind.“ Das sieht der Abteilungsleiter ein. Er weiß wie die Leute sind.

Der Betriebsrat sagt: „Vor Gericht wird das alles öffentlich verlesen. Und Ihre Kunden werden das lesen und fragen: Wie kommt der bloß auf schwule Sau?“

Es dauert noch eine halbe Stunde. Dann sieht der Abteilungsleiter ein, dass er über den Dingen steht. „Natürlich sind Sie im Recht“ sagt der Betriebsleiter. „Das ist klar“, sagt der Betriebsrat. „Aber Sie wissen ja, wie die Leute sind!“

Der Abteilungsleiter weiß wie die Leute sind. Er ist selber so.

Im Betrieb stehen die Mitarbeiter zusammen und diskutieren. Es ist eine unordentliche Betriebsversammlung entstanden, die bis zum Feierabend anhält.

Nun haben wir den Tag gut rumgekriegt. Also, bis Morgen!

 

Nachgeschichte: Der Abteilungsleiter nimmt den Vorwurf des Diebstahls zurück, weil er nicht zu beweisen ist. Der Lackierer nimmt den Vorwurf der schwulen Sau zurück, weil er nicht zu beweisen ist. Der Lackierer bekommt eine strenge Abmahnung, weil er geraucht hat, wo er nicht durfte und weil er getrunken hatte, aber das bestreitet er. „Nur Bier“ sagt er. Es wird am Schwarzen Brett ein Aushang gemacht: „Rauchen ist ab sofort besonders streng verboten! Trinken auch. Wer das nicht einsieht, fliegt! Die Geschäftsleitung.“

Der Abteilungsleiter und der Lackierer sind seit jenem Tag immer besonders höflich zueinander. „Könnten Sie bitte meine Schilder zuerst lackieren?“ fragt der Abteilungsleiter.

„Mach ick,“ sagt der Lackierer.

Denn einer muss ja wohl das Sagen haben im Betrieb, nicht wahr!  Wir sind doch hier nicht bei den Chaoten, ist das klar?

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