In der Ukraine, wo meine Familie mehr als 80 Jahre lebte, war Weihnachten ein wichtiges Fest. Meine Eltern erzählten oft davon.

Es war für sie ein deutsches Fest.

Ringsum lebten Ukrainer, Russen, Polen, Katholiken, Steuereintreiber und Geheim-Polizisten, aber in Romansdorf war es anders, alle waren deutsch und evangelisch.

Zwei Mal im Jahr kam ein Pfarrer aus Kiew, wohnte 2 Tage im Dorf und schrieb auf, was seit dem letzten Besuch geschehen war: wer ist geboren, wer ist gestorben und warum? Welche Krankheiten hatten die Menschen, welche die Kühe?

Kann der Junge auch den Katechismus?

Der Pastor schreibt alles in sein Pastorenbuch, um dann, wenn er wieder zu Hause ist, die amtlichen Sachen in das Kirchenbuch zu übertragen. Nur dort ist die Geschichte der Glasers aufgeschrieben, sonst wurde sie nur erzählt.

Es gab Jahre, ja auch Jahrzehnte, da waren Pfarrer verboten, deutsch zu sprechen war verboten, Schule war verboten, deutsche Bücher waren verboten. Aber die Religion konnte der Zar nicht verbieten. Die Religion war Deutschland für die Bauern.

Es war schon 300 Jahre her, dass die Familie Deutschland verlassen hatte, um nicht zu verhungern. Aber mit jedem Jahr in der Ferne wurde das „Reich“ immer schöner und heller. Und so kam nicht das Christkind Weihnachten, sondern die Heimat in jedes Haus.

Deutsche Feste, mit deutscher Kultur, mit deutschen Liedern, Bräuchen, deutscher Bibel, mit deutscher Luther-Bibel, das einzige Buch im Haus, neben dem Gesangbuch.

Die Frauen hatte ja auch Religion, aber vermischt mit den alltäglichen dem Aberglauben, der verlangte, dass man ein Geschwür „besprach“ mit gemurmelten Sätzen, es konnte dazu auch gebetet werden. Der nächste Arzt war 10 Stunden weg.

Natürlich glaubte niemand dem Pfarrer, dass Jesus mit 5 Fischen Tausende ernähren konnte. So etwas kann man einem Bauern nicht erzählen, aber sie glaubten daran, dass ein Christ, ein Evangelischer, immer wieder aufersteht, so oft man ihn auch beerdigt.

Und wenn sie ihn einsperren, lässt er in Westpreußen alles stehen und liegen und zieht Tausend Kilometer nach Osten, nach Wolhynien.

Und solch ein Evangelischer hält den Zaren aus und seine Steuereintreiber, Stalin hält er aus und seinen NKWD, die Nazis, den Krieg und den Hunger, die Erschießungen hält er aus.

So etwas wirft einen deutschen Lutheraner nicht um.

Und so war Weihnachten für die Glaser-Familien immer ein Deutsch-Tag, an dem man sich erinnerte an all die schrecklichen Dinge und wie man den Tod ausgetrickst hat.

Für Weihnachten war also nichts zu schade.

Sonst gab es die ganze Woche über Kartoffel mit Quark, dann Quark mit Kartoffeln, Kartoffeln mit Zwiebeln, geriebene Kartoffel, Klieben, Klöße, gestampfte, gebratene Kartoffeln, aber Weihnachten gab es Gans und Bratapfel.

Im Reich, so hatte der Ur-Großvater dem Großvater, dem Enkel immer erzählt, hatten sie immer Gans zu Weihnachten und Bratapfel und im Brunnen hingen die Wodka-Flaschen.

Das war wohl die Zeit, als die Glasers das Christkind abschafften und durch die Weihnachts-Gans ersetzten als Familien-Tradition. Jedenfalls habe ich das Christkind nie gesehen.

Die Nachkriegszeit war die Fortsetzung des Kriegs mit Besatzung und Hunger. Ich habe als Kind Mäuse gefangen auf den Feldern, sie waren erbitterte Gegner des Sozialismus. Pro Maus gab es 5 Pfennige.

Auch 1949 war immer noch Not. Und schon drohte ein neuer Krieg, West und Ost fletschten schon die Zähne.

Die Glasers konnten wittern, wenn schlechte Zeiten kamen. Sie hoben die Nase in den Wind und sagten: das gibt Kälte, das gibt Geheim-Polizei, das gibt Hunger!

Sie hängten dann nachts dicke Decken vor die Fenster und sprachen nie über wichtige Sachen, nicht mal im Keller. Sie hatten ihre Erfahrung mit den Kommunisten.

Aber Weihnachten war alles anders. Die Gans wurde zelebriert wie ein Gottesdienst. Sie wurde am Vorabend schon gerupft. Mutter hatte einen weiten Rock und in einer Kuhle lag die Gans und sie riss die Federn aus für neue Kissen und Vater erzählte von früher.

Dann brannte er den Flaum weg von der Gans, über dem Herd und ich musste, acht Jahre alt, Kartoffeln schälen, einen ganzen Eimer voll. Sie wurden gerieben mit einem Blech, in das mein Vater Löcher gehauen hatte mit einem Nagel, so dass die Rückseite eine Reibe wurde.

Der Kartoffelbrei wurde in einem Kissenbezug ausgepresst. Aus dem Kartoffelteig wurden  Klöße und im Wasser setzte sich die Kartoffel-Stärke ab. Daraus konnte Mutter Pralinen machen, mit Zucker und Rote Beete-Saft, rosa Pralinen oder sie konnte die Wäsche damit stärken.

Wenn Mutter Rotkohl eintauschen konnte, gab es Rotkohl mit Speckstücken, wenn nicht, gab es nur Fett mit Zwiebeln, über die Kartoffeln gegossen und reichlich selbstgebrannten Schnaps, der die graue Welt da draußen rosig machte und heiter.

Während die Gans im Ofen war, wurde der Baum aufgestellt, den mein Vater im Wald gestohlen hatte. Aufgehängt wurden Äpfel und, schau mal, ich hab Nüsse bekommen! Und sogar zwei Glaskugeln, selbstgemachte kleine Kerzen aus Rindertalg, die sehr rußten. Ich hatte nur Schnürsenkel als Dochte, sagte Vater.

Im Volksempfänger war Weihnachts-Musik. Vater und Mutter standen vor dem Baum, umarmten sich, was sie sonst nie taten. Die kleine Schwester Erika und ich, damals 8 Jahre alt. Die Heilige Familie in Droyssig. Eine Krippe war nicht nötig und der Stern war ein Sowjet-Stern und der Landpfleger Stalin liess alle Neugeborenen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilen, vorbeugend, damit sie gute Sozialisten würden.

Nach dem Essen war Bescherung.

Handschuhe, von Mutter gestrickt. Socken, von Mutter gestrickt. Der Pullover ist noch nicht fertig, sagte Mutter, aber ich durfte probieren. Die Ärmel fehlten noch. Vater hatte Schuhe gemacht für mich, mit Holzsohlen, weil es kein Leder gab und auch ein Holzpferd für mich aus einem Ast geschnitzt. Die Schwester bekam eine Puppe, aus Lumpen gemacht, mit 2 Knöpfen als Augen. Sie hatte Arme und Beine und tat alles, was Erika wollte.

Jeder umarmt jeden und wünscht ihm ein neues Jahr ohne Gefängnis oder Erschießung. Und nicht noch mal die Masern, sagte Mutter, dann ist alles gut. Nur keinen Krieg, sagte Vater.

Dann wurde gesungen.

Die ganze lange Flucht von Russland bis Sachsen-Anhalt haben wir den Evangeliums-Sänger mitgeschleppt und die dicke schwere Bibel. Ich trug sie in einem schwarzen Holzkoffer, aus dem wir schon fast alles weggeworfen hatten, weil es zu schwer war und die Russen ja doch alles wegnahmen, aber nicht die Bibel. Ich hab sie über die zugefrorene Oder geschleppt, vorbei an den toten Pferden und Menschen und die Tiefflieger haben sie sie auch nicht getroffen.

Was müssen das für Bilder gewesen sein, dass ein damals Vierjähriger sie bis heute sieht in den Albträumen!

Mutter las aus der Bibel die Weihnachtsgeschichte. Sie konnte nicht gut lesen, eigentlich konnte sie fast gar nicht lesen, aber alle wichtigen Geschichten sagte sie auswendig in ihrem Dialekt, eine Mischung aus Ost-Preußisch, Mittelalter-Deutsch aus der Pfalz und russischem Tonfall. Die Sprache nannten sie „Deitsch“. Mutter berichtet also aus der Bibel auf Deitsch.

Und dann nahm sie den Evangeliums-Sänger mit den alten Liedern, die sie in Wolhynien gesungen hatten zu Totenfeiern und Hochzeiten, wenn das Kind gestorben war und im Wald die Schüsse knallten, Genickschüsse für die Deutschen. Im Jahr 1938 wurden im Dorf 46 von 145 Deutschen erschossen, darunter alle Brüder des Vaters. Und die NKWD hat alles beschlagnahmt, nur nicht die Bibel, nicht das Gesangbuch.

Die Eltern sangen daraus die alten Lieder, mehrstimmig, auf russische Art. Mutter sang die Melodie und Vater den ganz tiefen Bass, voller Inbrunst, was etwas hiess bei ihm, denn er glaubte nicht an Gott, er glaubte nur an seiner Hände Arbeit und an Bestechung von Beamten. Er war eben ein Evangelischer aus Russland.

Aber Weihnachten sang Vater „Deutsche Kultur“.

Dafür war er in Verbannung gewesen und in Stalins Gefängnis, dafür hat meine Oma hat 25 Jahre Zwangsarbeit erhalten und lebt nun in Asbest, am Nordmeer, weil sie ihre Papiere nicht gefälscht hatte 1945.

Die Glasers haben ihre Papiere gefälscht. Vater kannte die Russen. Er hatte auch die richtigen Stempel drauf. Die Glaser wurden nicht „verschleppt“, wie Mutter sagte, sie durften im „Reich“ bleiben, zu Hause.

Und Weihnachten war deswegen ein Gedenk- und Dank-Fest. „Nun danket alle Gott“, egal, ob man dran glaubt.

Die ganze Nacht erzählten sich die Eltern von den schrecklichen Zeiten in Wolhynien bis ihnen die schrecklichen Nachkriegs-Zeiten draußen ganz hell und warm vorkamen.

Und der Suchdienst hatte meinen älteren Bruder Waldemar gefunden. Er lebte und würde bald nach Hause kommen aus Kriegsgefangenschaft oder wo er sonst war.

Ist das nicht ein schönes Weihnachten!!

1951 haben die Glasers dann wieder alles stehen und liegen gelassen und sind ein paar hundert Kilometer weiter nach Westen geflüchtet, nach Westfalen. Ich habe wieder die Bibel getragen in dem Holzkoffer.

 

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