Sachsen-Anhalt

Ich bin 5 als wir nach Droyssig kommen. Bis dahin habe ich nur Krieg erlebt. Aber er ist nicht zu Ende, er ist ein Wirtschaftskrieg, in dem es auch ums Überleben geht. Es ist alles erlaubt, nur darf man sich nicht erwischen lassen. Und da hat die Familie viel Erfahrung, eigentlich war es nie anders. Sie lebt nun auch hier, in Sachsen-Anhalt, nach wolhynischen Regeln, die jetzt, in Notzeiten, auch für die Eingeborenen gelten.

Es heißt, irgendwie nicht zu verhungern, nicht verhaftet zu werden, nicht nach Sibirien verfrachtet zu werden. Es sind meine Kinder-Lehrjahre.

Wir sammeln liegengebliebene Ähren auf den abgeernteten Feldern, sammeln Pilze, schneiden Sauerampfer am Straßenrand, machen aus alten Säcken Pullover.

Ich habe auch meine persönliche Ost-Front. In der Schule wird geprügelt, strammgestanden und am Nachmittag Kino geschaut, russische Filme, wie Kinder Handgranaten aus dem Fenster werfen auf die Konter-Revolutionäre und alle rufen „Hurrähhh“. Vater sagt: „Deutsche sollten am besten eine Weile nicht „Hurrah“ rufen, auch nicht Handgranaten werfen, aber Kohlen klauen.

Droyssig

1946 wird der Familie Sachsen-Anhalt zugewiesen, ein Dorf nicht weit von Zeitz, genauer ein Flüchtlingslager Hassel, eins von 1200 in jener Zeit.

Landkarte Droyssig. Foto: gemeinfrei

Landkarte: Droyssig. Foto: gemeinfrei

Im Dorf gibt es ein großes Schloss und einen Ritterguts-Besitzer mit viel, viel Land, das man ihm wegnimmt, denn „Junkerland in Bauernhand“ heißt die Politik. Tschüss Adel! Wir bauen eine neue, bessere Welt auf deinem Land. So die Theorie.

Vater hat die erste Schlacht in diesem Krieg gewonnen. Die Familie wird nicht nach Sibirien deportiert, so wie es meiner Oma und einem Teil der Familie passiert ist: Sie werden natürlich registriert im Lager Hassel und zeigen brav ihre Papiere vor, deutsche Papiere, in denen als ehemaliger Wohnort Sowjetunion steht. Das ist Verrat! Das ist ein Verbrechen! Panomai?

Sie haben alle 25 Jahre Zwangsarbeit gekriegt, weil sie die sowjetische Staatsbürgerschaft verraten haben, Deutsche geworden sind und das auch noch durch die „Einwanderer-Zentrale“, in der die SS das Sagen hatte. Ab in den Vieh-Waggon, Richtung Osten, so an die 3000 Kilometer weit.

>>     Deportationen 

Mein Vater kennt die Russen, sie haben ihn deportiert und ins Gefängnis gesteckt, zwei Brüder mit Genickschuss getötet. Er kennt die Sowjets. Er traut nur Papieren, die er selber gefälscht hat. Die echten? Verbrannt, zerbombt, verloren, weg, weg. Die Russen stellen neue aus. Danach haben die Glasers alle nie in Russland gelebt, sondern in Polen, wie heißt der Ort noch? Radom, klingt wie Romansdorf, wenn man es in schlechtem Russisch sagt. Wir können in Deutschland bleiben.

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>>     In der Sowjetunion : Cousin Edmund berichtet

Wir wohnen zu Viert in einem Raum, so groß, dass gerade ein eiserner Kanonenofen reinpasst, ein Blecheimer als Toilette und zwei Matratzen auf dem Boden. Es ist eine Abstellkammer, aber sie kann geheizt werden, wenn man genug Holz klaut. Wasser holen die Eltern von irgendwoher von einer Pumpe.

Das schwarze Ofenrohr ist mit Draht aufgehängt an der Decke und leitet die Abgase zum Fenster hinaus. Es riecht immer nach feuchter Wäsche, nach Urin, Wodka und Angst, dass es an der Tür klopft, so wie ein verlorener Krieg eben riecht.  Es ist eine sehr komfortable Wohnung.

Der neue Krieg startet eine Offensive mit 20 Grad unter Null und mit Hunger. Etwa 1 Million Deutsche verhungern, erfrieren in dem Winter. Längst besiegte Krankheiten sind wieder da und die Alliierten helfen beim Sterben.

Der britische General Montgomery verbietet dänischen Organisationen Lebensmittel-Lieferungen, die Deutschen sollen nicht mehr haben als die Häftlinge im KZ Bergen-Belsen und der amerikanische Präsident meint, die Deutschen sollen büßen, warum waren sie auch alle Nazis. Und der General Clay meint das auch und alle, so wird es in der Familie berichtet, unterstützen den Morgenthau-Plan, der Deutschland wieder zu einem Agrar-Staat machen will, ohne Industrie und nicht mit so vielen Menschen. Die Briten klauen 40 Millionen Bäume aus den Wäldern und die Franzosen lassen deutsche Kriegsgefangene auf den Rheinwiesen verhungern, an Krankheiten sterben. Es ist die Zeit der Rache.

Es sind eben wolhynische Zustände. Die Familie erwartet nichts anderes, sie klagt nicht.

Die Familie Glaser: Adolf, Eduard, Paul, Erika, Mutter Emilie in Droyssig 1946, Foto: privat / Paul Glaser

Mein Bruder Eduard hat die Familie wieder gefunden, sehr wichtig, einer mehr, der uns verteidigen kann. Er hat als Kriegsbeute ein Pferd mitgebracht, einen grauen alten Gaul, der aber noch gut den Pflug zieht

Mein Bruder Eduard, damals 18 Jahre, startet einen Gegenangriff auf die Kohlen-Züge, bewaffnet mit einem halben Meter Kuh-Kette, mit der man einem Kohlen-Wächter das Kinn wegschlagen kann, wenn er darauf besteht, dass wir erfrieren. Und manchmal kommt er nach Hause und Mutter muss ihn verbinden. Nicht so schlimm, sagt der Vater, eine Fleischwunde, passiert schon mal im Krieg.

So sind eben die wolhynischen Regeln. Die Alt-Lutheraner hatten immer den Spruch: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Und wenn der nicht hilft, dann hilft die Kuh-Kette.

>> Hunger 1946

Natürlich gibt es genug Lebensmittel, aber nicht für jeden, nur für Leute, die was zum Tauschen haben auf dem Schwarzmarkt. Wir haben nichts. Und alles kann man nicht klauen.

Mutter will Pralinen machen zum Tauschen, wie zu Hause. Und das geht so: Vater klaut einen Sack Kartoffeln, in Deutschland sagt man „organisiert“. In ein Stück Blech haut er mit einem Nagel viele Löcher, die auf der Rückseite scharf sind. Das ist die Kartoffel-Reibe. Wir schälen und reiben tagelang und der Kartoffelbrei wird in einem Kopfkissen ausgepresst. Das Wasser wird aufgefangen, am Boden setzt sich Stärke ab. Der Brei schmeckt noch sehr nach Kartoffeln, aber Vater schafft den Geschmack irgendwie weg, jedenfalls fast. Dann wird mit rote Beete der Kartoffel-Teig rot gefärbt, Zucker hinein. Irgendwo hat Vater einen kleinen Sack Zucker gefunden. Dann wird ausgewalzt, etwa 1 cm dick und alles in kleine Stücke geschnitten, die oben am Ofenrohr zum Trocknen aufgehängt werden.

Auf dem Schwarzmarkt tauscht Vater dafür eine Schuster-Ahle, Leder, einen Hammer. Einen Leisten hat er sich aus Holz geschnitzt. Es ist der Anfang unserer Stiefel-Produktion.

Er macht Stiefel für russische Offiziere, wolhynische Bauern können das. Stiefel mit weichen Schäften, mit verwegenen Falten, wie sie heldenhafte Kasacken tragen.  Die Ledersohlen nagelt er mit Holz-Nägeln, Speilen, so dick wie Streichhölzer. Sehr trocken müssen sie sein, wenn er sie in das Loch haut, das die Schuster-Ahle gemacht hat. Schon die Luftfeuchtigkeit lässt das Holz quellen und es hält bombig, oft erprobt in Wolhynien, wo sie alle auf diese Art Stiefel machen.

Die russischen Offiziere geben dafür Margarine, einen Bohrer oder Rinds-Leder, was immer sie stehlen können in der Kaserne, auch Mehl zum Brotbacken.

Weil er russisch kann darf er bald für die Rote Armee arbeiten. Er schlachtet die Kühe, die von den Soldaten bei den deutschen Bauern gekauft werden. Sie bezahlen bargeldlos mit der Maschinen-Pistole. Beim Schlachten fällt immer irgendwas für uns ab oder es wird abgefallen, wie es üblich ist in Russland.

Wir haben vorerst mal unser Überleben gesichert, jedenfalls für diesen Winter.

 Im letzten Sommer hat Mutter im Wald Essen gesammelt, Pilze, Sauerampfer vom Straßenrand, Schlehen im Herbst, Hagebutten, wie einst die Menschen kurz nach der Steinzeit, aber wir werden einigermaßen satt.

Es sind wolhynische Zeiten damals in Deutschland. Kein Arzt, kein Bäcker, kein Schuster, nur Feinde ringsum, Geheim-Polizei, Soldaten mit Patriotismus und halbem Hirn.

Vater will die Produktions-Palette der Familie erweitern und Schnaps brennen. Für Kartoffel-Schnaps, klauen uns die Russen auch eine Kanone, sagt er, oder mehr Kartoffeln, einen Sack voll, den sie den deutschen Bauern weggenommen haben. Das bringt mehr Schnaps und genug zum Essen, dazu noch einen Sack Zucker. Es sind amerikanische Säcke, sie sind aus schimmernden Fäden, die sich aufräufeln lassen und Mutter strickt daraus Pullover und Handschuhe. Es ist ein sehr kalter Winter im Januar 1946.

Diese Geschichte erzähle ich, um zu zeigen, dass unsere Familie in Wolhynien, westlich von Kiew, schon immer so gelebt hat wie nach einem verlorenen Krieg. Die Bauern haben alles selber gemacht, nicht nur Stiefel, sondern auch Arznei und Zaubersprüche gegen den Typhus. Mein Bruder Waldemar erzählt, dass der Staat vier Mal im Jahr gekommen ist als Steuer-Eintreiber, sonst war wolhynische Freiheit.  Wenn jemand Gerechtigkeit wollte, dann musste er sie sich selber holen, oft mit einem dicken Knüppel und einem Hanfseil, mit dem man den Verbrecher hängen konnte. Mein Vater hat erzählt, wie das war in seiner Jugend, so zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg. Ohne Bestechung war man nicht lange frei, ohne Messer und Knüppel nicht lange am Leben. Die Menschen haben im Hungerjahr 1923 auch siebenjährige Jungs zerlegt und gegessen.

Jeder hat jeden bespitzelt, um beim NKWD ein Propust zu bekommen, das er nicht ein Kulak ist, sondern ein revolutionärer Sowjetmensch. 500 Rubel hat er bezahlt dafür und man brauchte so einige Bescheinigungen in jener Zeit. Manchmal, wenn ein neuer NKWD-Kommissar kam, der noch nicht genug Bestechungs-Geld hatte, musste er auch in den Sümpfen leben und meine Mutter hat ihm nachts an einem Baum was zum Essen hingelegt. Sie hatte übrigens einen Propust, dass mein Vater, dieser Verräter, nach Deutschland geflüchtet war. So konnte sie nicht verhindern, dass die Kühe beschlagnahmt wurden, aber sie überlebt.

Der harte Winter geht vorbei und damit nimmt die Zukunfts-Hoffnung zu bei meinen Eltern. 1946 wird meine Schwester Erika geboren, in einer Zeit, als die DDR-Kommunisten eine bessere Welt aufbauen. Sie nehmen dem Junker, dem Ritterguts-Besitzer in Droyssig, sein Schloss weg und sein Land. Sie verteilen es an geflüchtete Bauern, die sie Neu-Bauern nennen. Das Programm ist die <Boden-Reform>. Die Privatisierung hält nicht lange. Den Junkern wird immer noch das Land weggenommen, aber das bekommt nun der Staat. Es ist der revolutionäre Schritt vom Menschen zum Funktionär. Mein Vater kennt das alles schon aus Wolhynien. Er weiß wie der wunderschöne Traum von einer gerechten Welt enden wird, nämlich nach einem Spruch von Stalin: alle Probleme kommen von den Menschen. Keine Menschen, keine Probleme! Er nennt das Säuberung.

Also, es war nicht so schlimm 1946 in Droyssig, jedenfalls war es nicht ungewohnt.

Ein eigenes Haus

Mein Vater hat die Sowjets gehasst, aber er spricht russisch und das ist viel wert und für den Geheimdienst gibt es ihn nicht, wegen der gefälschten Papiere. Und so darf er für das russische Militär schlachten, Rinder meist, auch mitgehen darf er zu den deutschen Bauernhöfen, Rinder abholen, beschlagnahmt! Du verstehen?

Was will der Bauer? Ein Stück Papier will er? Schau mal, das ist mehr wert als Papier, siehst du diese Maschinenpistole! Wir sind die Besatzung, wir haben Schnell-Feuer. Damit waren alle Rechtswege erledigt für den Bauern. Und bei der Bestechung sind die deutschen Bauern sehr schlecht. Sie hätten vielleicht eine Offiziers-Jacke kriegen können, aber sie wollen ein Stück Papier und so kriegen sie gar nichts. Das haben sie davon, dass sie an Gerechtigkeit glauben.

Mein Vater verschiebt den Hass auf die Sowjets in den Abend, tagsüber schlachtet er für sie. Da fällt eine Menge ab, Schweine-Ohren, Füße für Sülze, manchmal auch Fleisch und Leder. Die Familie erweitert die Produktions-Palette. Aus dem Fleisch wird Mettwurst gemacht, in Einweck-Gläsern gefüllt und auf dem Schwarzmarkt getauscht gegen Därme, damit auch Wurst gemacht werden kann und Schinken. Hinter dem Haus hat Vater eine Räucherkammer gebaut aus Brettern.

Durch die Landreform hat er ein Stück Land gekriegt, einen Bauplatz am Deschewitzer Weg, an einem Hügel und nun will er ein Haus bauen, eine Scheune, Kuh-und Schweinestall.

Das ist viel Arbeit, aber es geht schnell. Was Vater an Fleisch von den Russen bringt, lässt sich umrubeln in Steine, Holzbalken, Dachziegel und Wasserrohre. Für einen, der Fleisch und Mettwurst hat, gibt es sogar Zement und preiswerte Maurer, die den sozialistischen Staat um die Steuer bescheißen. Aber sie arbeiten mit den Russen zusammen.

In kurzer Zeit hatten wir ein Haus, klein, aber mit Scheune, Stall für das Pferd, die Kuh, die Schweine. Familie Glaser war auf dem besten Weg zur Selbstversorgung, wie einst in der Ukraine.

Aber richtig gut wird der Warenaustausch mit den Russen, als Vater eines Tages mit einem Stück Kupferrohr nach Hause kommt, so dick wie ein Daumen, fast zwei Meter lang. Er biegt es wie eine Spirale, das obere Ende zeigt nach unten. Es ist der Beginn unserer Wodka-Produktion. Sie ist fast so wirkungsvoll wie die Maschinenpistole bei den Bauern. Für Schnaps würden die Russen auch die Stalin-Bilder stehlen in der Kaserne.

Was noch besser ist, für Schnaps kriegt man von den Russen Ziegelsteine und Holzbalken, wer weiß bei wem sie das gestohlen haben. Und auch Kleiderstoff, für den Vater auf dem Schwarzmarkt kriegt man dafür auch Fahrrad-Ketten, kriegt man Näh-Nadeln, mit denen man dann auch einen Maurer bezahlen kann, die damals sehr preiswert sind, weil viele Kriegsgefangene zurückkommen, die keine Arbeit finden. Sie haben den Krieg verloren und solche Soldaten sind nur noch mit Abschlag verkäuflich.

Am Deschewitzer Weg, am Rande von Droyssig, an einer sanften Steigung haben wir Junkerland bekommen und es geht schnell voran. Wer weiß, wie lange die Russen noch einfach nehmen, was sie brauchen mit sanftem Hinweis auf die Maschinen-Pistole, die ja der Garant ist für die deutsch-sowjetische Freundschaft.

Schwarzbrennen

Vater macht wegen dieser Unsicherheit eine zweite Produktlinie, die in Russland, in Wolhynien, dazu gehört: eine Schwarz-Brennerei. Er hat eine alte Milchkanne, die so an die 30 Liter fasst, umgebaut als Gär-Kessel, mit einem S-förmigen Glasverschluss als Filter.

Irgendwoher hat er auch 2 Meter Kupferrohr gefunden, das er zu einer Spirale dreht. Das wird der Kondensator und einen ehemaligen Wäschetopf, der wird der Braukessel.

Ich darf mit in den Keller, wo die Fenster dicht verhängt sind, denn Schwarzbrennen ist verboten, ist streng verboten, ist gefährlich streng verboten, aber es ist ein gutes Geschäft.

Die vergorenen Kartoffeln aus der Milchkanne werden in den Brenntopf gefüllt, der auf einem Herd steht, und die Hitze treibt das Kondenswasser in die Kupferspirale, kühlt ab und tropft am Ende des Rohrs in einen Topf. Das erste Zeug schüttet Vater weg. „Giftig“, sagt er und der zweite Schub ist schon brauchbar. Mit einem Löffel fängt Vater einige Tropfen auf und hält ein Streichholz ran. Der Wodka brennt. „Für die Soldaten reicht es, für die Offiziere brennen wir ein zweites Mal sagt Vater.

Der Wodka ist ein Renner. Auf dem Schwarzmarkt ist er zwar nicht soviel wert wie Ami-Zigaretten, aber bei den Russen ist er beliebter, für uns wie ein Kredit bei der Bank, der nicht alle wird. Das Haus geht in die Höhe, ein Stall dazu für Pferd, Kuh und Schweine und eine Scheune und alles legal. Ein deutscher Behörden-Fritze schaut sich alles an, sagt „alles gut“ und geht mit einem kleinen Paket unterm Arm zur nächsten Baustelle.

Um das alles zu bezahlen, wird die Schnaps-Produktion ausgeweitet und die deutschen Beamten bestochen, damit sie nicht auf die Spitzel hören, die ihnen melden, dass bei Glaser schwarz gebrannt wird. Einer kommt jeden Monat, in einem umgefärbten Armee-Mantel, und er geht weg mit einem Packen, in Zeitungen gewickelt, unter dem Arm. Es ist ein linker Widerstands-Kämpfer gegen Hitler, den man nicht einfach einlochen kann. Auch gute Kommunisten haben Hunger.

Abends nimmt mich Vater mit in den Keller. Wir hängen die Fenster zu mit Pferdedecken, damit niemand auch nur einen Lichtschimmer sieht. Im Keller stehen alte Bierfässer, in denen Kartoffelschalen gären. Die vergorene Brühe wird in einem Kochtopf, luftdicht abgeschlossen, heiß gemacht und der Dampf steigt durch das Kupferrohr, das wie ein Korkenzieher gewendelt ist, kühlt sich ab, tropft dann am Ende aus dem Rohr als Rohschnaps mit Wasser. Im zweiten Arbeitsgang wird noch mal destilliert, damit weniger Wasser und mehr Alkohol drin ist.

Als Test hält Vater einen Esslöffel unter das tropfende Rohr und, wenn er den Schnaps angezündet, brennt eine blau-rote Flamme. An der Farbe kann Vater erkennen wie stark das Zeug ist. Es reicht für die Russen, sagt er, wir brauchen mehr Kartoffeln.

Denn es fehlen noch Dach-Ziegel für das Haus und die deutschen Beamten haben ihre Bestechungs-Preise erhöht. Das sind eben die Zwänge der Marktwirtschaft.

Am Haus bauen nun schon etwa ein Dutzend deutsche Hungerleider und das Holz für die Dachsparren, dazu für eine Scheune, die Ställe, das will alles bezahlt sein. Und wer weiß, wie lange die Russen den Deutschen einfach alles wegnehmen können, macht sich Vater Gedanken über die politische Entwicklung. Die Kommunisten brauchen für den Arbeiter- und Bauernstaat Bauern, denen kann man nicht einfach die Kuh wegnehmen.

Mutter hatte auch eine Pullover-Produktion. Dafür brauchte sie leere Zuckersäcke, fein gewebt, amerikanische Säcke mit silbrigen Fäden drin. Die Fäden wurden aufgereifelt und auf Knäuel gewickelt. Im Winter wird gestrickt und dazu Geschichten erzählt, meist von früher. Wer hat mit wem und warum war der Vater dagegen. Wieso hat er die Frau immer verhauen? Und weißt du noch, wie du in Shitomir sogar die Schuhe verspielt hast beim Kartenspielen?

Und damals, als du vom NKWD diese Propuste bekommen hast, als der Offizier besoffen war?

Aber wir sind schnell genug. In kurzer Zeit haben wir ein Haus, nicht sehr groß, aber sicher grösser als alles, was die Familie je hatte, 1 Stock hoch und eine Scheune, einen Stall für das Pferd, die Kuh, die Schweine. Familie Glaser war auf dem besten Weg in die deutsche Gesellschaft. Das Geschäfts-Modell ist sicherer als jenes in der Ukraine, das doch sehr abhing vom Wetter.

Dann kommt mein Bruder Waldemar zurück aus dem Krieg. Mit 16 ist er Soldat geworden, wie üblich in Wolhynien, als Volks-Deutscher, bei der Waffen-SS. Er bekommt eine Flinte und ist dann der „Selbstschutz“ im Dorf, eine Art Bürgerwehr, denn Polizei gibt es nicht und wenn, dann ist sie gefährlicher als die Räuber.

Dann muss er ins Baltikum, kämpfen, dann nach Ungarn, dann in Brandenburg bei Halbe, letztes Gefecht. Aber bevor er den Krieg gewinnen kann, wird er von den Amerikanern gefangen genommen und vermietet an einen Bauern im Oldenburgischen, einen arischen Ost-Friesen. Waldemar schläft im Stall neben den Kühen, erhält 2,50 Reichsmark pro Tag.

Er hat mir erzählt, dass er die Russen nicht gehasst hat, obwohl sie zwei Onkel erschossen hatten, auch die Ukrainer nicht, auch die Rotarmisten nicht, aber den oldenburgischen Bauern hat er gehasst. „Deutscher Bauer“ ist in unserer Familie ein Schimpfwort.

Nachdem er wieder bei uns ist hat sich die Zahl der Arbeitskräfte schon fast verdoppelt. Die Familie wird schlagkräftiger.

Vater entwickelte nun einen Hang zum Luxus.

Er baut einen Schlitten, einen russischen Schlitten, in dem 4 Menschen sitzen können, mit einem Bogen-Joch; gezogen von einem Pferd. Das Holz ist mit der Hand poliert und überall glatt, sogar eiserne Kufen hat er. Was fehlt, ist der Schnee. Aber mit dem Schlitten muss man ja auch nicht fahren, damit verbessert man den Marktwert der Familie, jedenfalls in Russland.

>>  Weihnachten bei Glasers 1949

In Sachsen-Anhalt soll ja damals das Arbeiter-Paradies aufgebaut werden. Mein Vater hat nicht an Arbeiter geglaubt, er war selber einer. Er weiß aus Erfahrung der stalinschen Säuberungen, dass man bei Arbeitern sehr vorsichtig sein muss. Sie schießen einem ins Genick, während man noch über ihre Witze lacht.

Was ihn besonders misstrauisch macht: In den Zeitungen steht jetzt immer öfter was von einer besseren Zukunft. Da ist er alarmiert. Die haben was vor, sagt er. Stalin hat einige Millionen umgebracht, weil sie der besseren Zukunft im Wege waren. Zukunft ist gefährlich. Und je mehr vom Fortschritt des Sozialismus geredet wird, desto misstrauischer wird er.

Die Familie beschließt Ende 1949, nachdem die DDR gegründet ist, auf Zukunft zu verzichten und das Arbeiter-Paradies zu verlassen. Wir gehen in den Westen. Wir lassen alles liegen und stehen und hauen ab. Das ist keine Katastrophe, jedenfalls keine ungewöhnliche. Seit hundert Jahren lebt die Familie von einer Flucht zur nächsten. Wir gehen ein Land weiter, diesmal trecken wir zum Kapitalismus, das sind nur einige Hundert Kilometer, aber es muss gut vorbereitet werden.

Vater kennt da einen Volkspolizisten, der schon öfter mal ein Huhn abgeholt hat bei uns, weil er eine Familie hat, die hungert. Er will uns über die Grenze bringen in den Westen. Er kennt die Dienstpläne der Grenzpolizei bei einem Abschnitt im Harz. Dort sollen wir rüber, nicht links davon und nicht rechts und genau zur Uhrzeit. Vater traut ihm. Wer sich so oft bestechen lässt, ist vertrauenswürdig. 

Was sich verkaufen lässt, wird verkauft, aber vorsichtig. Es ist ja möglich, dass jeder Käufer für eine bessere Zukunft kämpft, ein Spitzel ist für eine bessere Welt.  Haus, Pferde und Kühe kann man sowieso nicht verkaufen, das macht Misstrauen, aber Getreide und Kleinvieh lässt sich in kleinen Mengen verkaufen.

Das Geld wird eingenäht in die Kleider, in die Revers der Mäntel, in die Säume der Röcke, in das Stiefelfutter. Wir waren schließlich mit Geld gepolstert. Zu niemanden darf irgendwer reden, auch nicht zu Freunden, Verwandten oder anderen Verrätern. Das ist wolhynisches Gesetz. Wir verhängen jeden Abend alle Fenster, damit man das Licht nicht sieht nach Mitternacht, das könnte jemanden auf Gedanken bringen.

Wir erzählen den Nachbarn unsere Pläne für das Frühjahr, erzählen, was wir alles vorhaben. Eine neue Scheune bauen, Land dazu pachten.

Die Familie kann nicht zusammen flüchten, das fällt auf. Mein Vater geht zuerst über die Grenze, dann der Bruder. Dann geht meine Mutter mit mir und der kleinen Schwester Erika, sie ist vier. 

Die Flucht in den Westen, 1950

Unser Haus in Droyssig liegt an einem lang gestreckten Hang außerhalb des Dorfes. Schon von weit kann jeder sehen, ob die Zimmer beleuchtet sind abends und deswegen hat meine Mutter alle Fenster mit Decken verhängt, die am Fensterrahmen festge­macht werden. Es ist schon später Abend, so gegen 10 Uhr, eigentlich Zeit für die Kinder zum Schlafen gehen. Ich bin neun und meine Schwester vier Jahre alt. Meine Mutter zieht uns an, lange Strümpfe, ein Hemd. Sie legte Pullover zurecht und die Mäntel. In ihnen ist das Geld eingenäht. Wochenlang hat Mutter die Säume aufgetrennt und die Scheine flach gedrückt und in den Stoff gedrückt, wieder zugenäht alles. Die Mäntel sind wichtig, sie sind alles, was wir mitnehmen können.

Die Koffer sind gepackt, eine kleine Tasche mit bestrichenen Broten. Wir gehen dann alle schlafen, angezogen. Irgendwann rüttelt mich meine Mutter: „Aufstehen, aufstehen“, flüsterte sie und ich war gleich wach, springe aus dem Bett, suche die Schuhe. Meine Mutter zieht die Schwester Erika an und dann alle unsere Mäntel.

Wir stehen dann im Zimmer, die Koffer neben uns und meine Mutter sieht sich noch einmal um. Sie würde das Zimmer nicht mehr wieder sehen. Es war nicht das erste Mal, dass sie so weggehen musste. Schon 1943 war das so, da floh sie aus Wolhynien zum Warthegau und von dort dann weiter nach Westen, mich an der Hand, vier Jahre bin ich, habe einen kleinen Holzkoffer. Wir fliehen vor den Russen. Es ist Winter, die Oder ist zugefroren damals Anfang 1945.

Auch jetzt ist es kalt, es liegen ein paar Schneereste auf den Feldern und der Atem steht als kleine weiße Wolke vor dem Mund. Alles ist trübe, neblig. Gut so! Nebel ist gut.

Wir gehen ins Dorf, im Dunkeln, zum Bahnhof. Fast allein sind wir auf dem Bahnsteig, ein paar trübe Lampen, alles grau, kalt, feindlich. Dann kommt der Zug und wir sitzen in einem Abteil, ganz allein. Holzbänke, schlecht geheizt. Wir haben lange geübt: mit niemandem reden, ganz normal sitzen, ruhig und still, nicht auffallen, hat Mutter gesagt. Wenn jemand fragt, dann sagt: wir wollen ins Krankenhaus, Großmutter besuchen, liegt in Zeitz im Krankenhaus, will die Enkel noch mal sehen, ist schwer krank.

Ich hatte mir das gemerkt, bei meiner kleinen Schwester reichte es, wenn sie weint.

Endlos scheint mir die Fahrt. Draußen wird es heller, trüber Nebel und Bäume huschen vorbei, die Telefonmasten. Schwupp, schwupp, immer noch einer, noch einer. Den ganzen Tag fahren wir. Zeitz, Merseburg, umsteigen, einsteigen, umsteigen, zurück fahren, umsteigen, niemand soll uns folgen. Wir fahren nicht die di­rekte Strecke, sondern kleine langsame Strecken, da sind weniger Kontrollen durch die Polizei. Die schnellen Linien sind bekannt, das ist gefährlich.

Ich döse ein wenig, die Schwester quengelt und Mutter ist immer auf der Hut, kein Dösen, kein Schlafen, immer wach bleiben. Immer sehen, ob eine Kontrolle kommt, irgendeine Uniform. Immer aufpassen.

Dann sind wir da. Ich weiß nicht, wo wir sind, aber wir sind am Ziel. Als wir aussteigen, stehen wir in einem kleinen Dorf und gehen langsam bis zum Dorfrand. Da ist ein Gast­haus. Wir werden schon erwartet. Hierher! Nicht in den Gastraum, hinten rum. Da ist ein Raum, ein kleiner Lagerraum oder Rübenkeller, eine Glüh-Birne an der Decke, alles sehr dunkel und kalt. Da sitzen schon welche. Vielleicht 10 oder 15 Leute, wie wir. Mütter mit Kindern, das Gepäck auf den Knien, die Kleinen an die Mutter gepresst. Niemand sagt seinen Namen, vielleicht ist ein Spitzel unter uns.

Dann kommt ein Mann, dunkel gekleidet, langer Mantel. „Es geht los“. Alle drängten aus dem Verschlag, sie haben es jetzt sehr eilig. Es geht los! Reißt euch zusammen! Hör auf zu weinen! Hast du den Kof­fer, wo ist der Koffer?! Ach da ist der Koffer, verlier ihn nicht. Bleibt bei Mutter, nicht zurückbleiben! Nimm ihre Hand, nicht den Anschluss verlieren, niemand wartet auf uns.

Keine Sterne sind zu sehen, gut! Kein Licht, keine Laterne, aber viel Nebel. Sehr gut.

Wir gehen nun eine kleine Straße entlang, wei­ter raus aus dem Dorf, links und rechts nur Felder, vor uns ein leichter Schimmer am Himmel. Ist das der Mond? Leuchtkugeln sind es nicht.

Wir gehen und gehen, dann hält alles, alle sind still. Wir biegen ab von der Straße in ei­nen Feldweg, sehr holprig, schwer zu gehen. Meine Mutter nimmt die Schwester auf den Arm, ich trag auch noch eine Tasche der Mutter. Ich bin schließlich schon 9 und der ein­zige Mann in der Familie. Der Weg ist zu Ende und wir gehen an einem Feldrand ent­lang, an einem kleinen Graben, auf der anderen Seite ist gepflügter Acker. Wir verlieren den Anschluss! Geh schneller, hör auf zu Weinen! Schneller! Nicht zurückbleiben!

Uns ist nun sehr warm, der Schweiß läuft. Dann ruft der Mann an der Spitze: Ruhe! Wir ducken uns alle auf das Feld. Keine Deckung, freies Feld überall, ganz klein machen in der Hocke. Der Atem geht noch schwer vom Laufen. Ist er zu laut?

Es knallt, das sind Schüsse, aber weit weg, dann ist Stille. „Die Rus­sen“, sagte der Mann, der uns führt. Er ist klein, sehr schmales Gesicht, eine Mütze hat er auf. Später erfahre ich: es ist ein Volks-Polizist, ein Offizier. Er kennt die Pläne der Grenz­soldaten, der deutschen. Die russischen kennt er nicht. Das ist das Risiko. „Das sind die Russen*! sagt er. Das heisst: Betet noch einmal! Es sind die Russen!

Wir wissen, was Russen sind. Wir sind ganz still, alle sind still, sie wissen es auch.

Wir warten noch ein wenig, aber alles bleibt ruhig. Aufstehen! Weiter!

Den Koffer hoch, Mutter nimmt Erika auf den Rücken. Nicht den Anschluss verlieren!

Und dann hält der Polizist. „Ich komme nicht weiter mit“, sagte er „ihr geht jetzt allein“. Hinter dem Feld, da seid ihr drüben! Er sagte nicht: „viel Glück“ oder „auf Wiedersehen“ oder „Macht’s gut!“  Seine Arbeit ist getan.

Also los! Alle laufen nun los, so schnell jeder kann. Es ist gepflügter Acker, schwer zu gehen, die Füße knicken weg, man stolpert. Das Gepäck wird immer schwerer. Nicht den Koffer verlieren! Nicht die Schwester verlieren! Nicht den Anschluss verlieren! Hör auf zu weinen! Mutter hat Erika auf dem Rücken. Halt Dich fest! Fass mich um! Nicht weinen!

Wir stolpern vorwärts, wir sind die Letzten, die anderen sind schneller. Niemand war­tet auf uns, niemand hilft, alle laufen über den Acker.

Am Horizont ist wieder ein heller Schein. Sind das doch Leuchtkugeln? Wir müssen genau in diese Richtung.

Eine Pause, Luft holen, sagt Mutter, weiter, sagt sie, lauf weiter.

Irgendwann ist das Feld dann zu Ende, wir gehen auf einer kleinen Straße. Wunderbar diese Straße, man kann richtig gehen. Hat er gesagt: hinter dem Feld ist der Westen?

Dann sind wir im Dorf. „Ihr seid im Westen“, sagt ein Mann im Dun­keln und meine Mutter fängt an zu heulen, laut und hemmungslos. Ich nehme ihre Hand.

Wir sind im Harz, im westlichen Teil des Harzes, ein paar Kilometer von Duderstadt. Nie werde ich diesen Namen vergessen: Duderstadt. Wir sind im Westen, die DDR liegt hinter uns, die Russen sind weit weg.

In einer Schule schlafen wir auf dem Fußboden.

 

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