Mutter stirbt

Ende 1961 war ich in München. Ich habe dann erfahren, dass meine Mutter aus dem Krankenhaus nach Hause ging zum Sterben. Der Krebs war weit fortgeschritten. Es gab keine Hilfe mehr. Sie war 54 Jahre alt.

Ich bin dann nach Lünern getrampt. Ich wollte bei ihr sein, wenn sie starb.

Wir hatten im Wohnzimmer ein Bett aufgestellt und pflegten sie abwechselnd. Ihr ganzer Unterleib faulte, es stank sehr. Morphium machte die Schmerzen erträglich. Vater und ich saßen an ihrem Bett und wischten ab und zu mit einem nassen Tuch über ihr Gesicht, mit einem Wattebausch hielten wir die spröden Lippen feucht, gaben kleine Schlucke Kamillentee, mehr vertrug sie nicht. Sie brachte alles sofort heraus.

Ihre Augen aber waren klar. Sie hatte ihr ganzes Leben nicht geklagt und tat das auch jetzt nicht. Für sie war es der Wille Gottes, dem man sich fügen muss. Ich hielt ihre feuchte Hand, die Finger konnte sie bewegen. Wir sahen uns an und sagten kein Wort für eine Weile. In ihren Augen war so ein Ausdruck: ich bin schon weit weg, Sohn, ganz weit weg.

Sie erzählte dann von alten Zeiten. Dass der Vater viel zu oft besoffen gewesen war, gespielt hat er, die Pferde hat er verspielt und den Wagen. Sie erzählte von den Erschießungen, von der Flucht, dann Krieg, wieder Flucht.

„Weiß du noch, wie wir über die Oder gegangen sind, im Winter?“ Sie war zugefroren. „Ja, Mama“, sagte ich, „ich hatte einen schwarzen Holzkoffer.“ Überall tote Pferde und tote Menschen, rechts und links, und mitten durch ein endloser Zug von Flüchtlingen, die entkommen wollten. Die Tiefflieger von oben, das Eis knackte manchmal und die Männer brüllten, die Soldaten brüllten, wir sollten Platz machen, sie marschierten nach Westen, der Russe war hinter ihnen her. Überall tote Pferde. Man konnte das Ufer nicht sehen, so trübe war es. Uns beide verband vieles.

Auch Vater erzählte, was er sonst nie machte. Es war ein Tabu über die alten Zeiten zu reden. Später erfuhr ich, unsere Papiere waren gefälscht. Reden war gefährlich.

Und am Sterbebett erzählte er zum ersten Mal, in einem Gemisch aus Deutsch, Russisch, Wolhynisch.

Er erzählte von den Säuberungen 1937 und 1938. Damals brachten die Sowjets einige Millionen Menschen um oder schickten sie nach Sibirien. Allein 49 der Dorfbewohner erschossen sie, darunter waren zwei meiner Onkel, also die Brüder des Vaters, Heinrich und Albert. Davon erzählte Vater und ich schrieb es anschließend in das Tagebuch.

Tagebucheintrag: Vater erzählt von 1938

 

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