Ich habe die Nacht auf dem Fußboden geschlafen, in einem schmutzigen Schlafsack, in einem winzigen Zimmer, mit ein paar Typen, die kreuz liegen und quer auf dem Boden, auf Matratzen, halb unterm Tisch. Der Zint hat sie gestern Nacht aufgegabelt in einer Kneipe.

Steif, müde und weich gekocht von der Hitze stehe ich auf, räume das schmutzige Geschirr im Spülbecken zur Seite, um mir wenigstens die Zähne etwas putzen zu können. Ich mache das Fenster auf für den Al­kohol-Dunst. Es ist Sonntag. Der Liebegott lauert in den Kirchen auf Kunden.

Ich will mir heute Hamburg anschauen, wie es singt und lacht. Ich gehe durch St. Pauli. Die Gegend ist so schmuddelig, wie in der Hamburg-Werbung versprochen. Verzeihung, sage ich zu einem Mann, der seinen Hund an einer Laterne ein Bein heben lässt. Wir schauen beide zu, aber es kommt nichts. Läuft auch nicht so richtig, sag ich.

Ja ja, die Welt ist nicht mehr, was sie mal war, sagt der Mann. Sehen Sie mal, diese kurz­en Röcke. Ich wart ja darauf, dass sie an den Haltestellen warten, wo sie die Röcke ganz hochziehen können, um einen Mann anzulocken, bevor die Straßenbahn kommt. Mensch, sage ich, Sie haben ja eine Phantasie, die könnte von mir sein.

Ich frage ihn nach dieser Gegend, in die ich will: schmutzig, Besoffene liegen überall rum und eine einbeinige Nutte winkt dem Freier mit ihrer Krücke zum Abschied.

Ach, Sie meinen den Fischmarkt, sagt er, na, dann gehen Sie mal da runter.

Nah am Hafen, neben dem stinkigen Hafenleichenwasser stehen endlose Reihen Lagerschuppen, verwinkelt, beschmiert. Da ist gerade der Sonntags-Markt zu Ende. Die Arbeiter packen die fahrbaren Buden zusammen, waten durch kniehohen Abfall, fegen den Müll zusammen, taumeln hinter dem Besen her, spucken in ein Gematsch von verfaulten To­maten. Die Möwen kreischen dazu ihren Heiligen-Sonntag-Kreisch. Eine alte Frau kämpft mit ei­nem Abfallhaufen um ihr Frühstück. Dazwischen Kehrmaschinen, fluchende Arbeiter, alle bemühen sich um den wirtschaftli­chen Fortschritt, der sehr laut ist.

Ein Betrunkener mit zerrissenem Gesicht, der sich kaum auf den Beinen halten kann, ba­lanciert einen großen Strauß Gladiolen, die er aus dem Abfall geholt hat. Sie liegen in großen Bergen zwischen den Buden. War kein Tag für Blumen heute.

Aus Hydranten kommen Wasser-Ströme, um die Überreste der freien Markt-Wirtschaft wegzu­spülen.

Ein junger Mensch liegt ganz still und zufrieden im Abwasser,  schaut, als sei es nun doch ganz gleich, wo man liegen bleibt. Die Abwässer aus den Hydranten laufen ihm in die Hose und er staunt über die Menschen in den Mercedessen, die ihre Buden und Gewinne nach Hause fahren.

Zwei Polizisten kommen ganz lässig die Straße runter, im Wir-sind-das-Gewalt-Monopol-Schlender-Schritt, vermeiden sorgfältig jeden Kontakt mit Menschen.

Sie machen aber eine Ausnahme bei dem Betrunkenen, der an einer Laterne die Fisch-Markt-National-Hymne singt: Wodka, Wodka über alles…Die zweite Strophe geht wie die erste und ein Polizist sagt dem Sänger irgendwas und der singt nun die dritte Strophe, die so ist wie die zweite und der Polizist haut ihm mit dem Knüppel auf die Schulter und weil das nicht reicht, auch noch ins Genick. Der Sänger sackt auf die Knie und zeigt auf diese Art an, dass er jetzt ein braver Bürger sein will.

Die Polizisten gehen dann weiter in Richtung Elbe, um noch mehr Ruhe und Ordnung herzustellen.

In dieser Gegend sehen die meisten Hamburger aus wie Frankensteins Lover und einer von ih­nen kommt nun auf mich zu, so um die 25, ein Riss geht über die rechte Backe, keine Stunde alt. Erstaunlicherweise tritt er in keine Flaschen-Scherben und auch nicht in die Pommes-Frites, die ihm jemand zum Ausrutschen hingelegt hat.

Haaa, sagt er.

Meinst du wirklich?  frag ich.
Haaah, sagt er.

Huhuuu, sag ich. Er sieht mich prüfend an.

Büst wohl n büschen besoffen? fragt er mich.
Nee, aber ich hab’s nötig.

Frauen? fragt er.

Eine, sag ich.

Er dreht sich um und geht auf eine Kneipe zu. Ich hinterher.

Wir stellen uns an den Tresen, wo zwei Kerle einen verzweifelten Kampf  mit der Schwer­kraft austragen.

Koooarn, sagt Karl dem Wirt, der aussieht wie der ungefegte Fischmarkt.

Lütt n Lütt? fragt der Wirt.

Nej, sagt Karl, nur Kooarn, zwei Doppelte.

lch heiss Koarl, sagte Karl. Alle kennen ihn hier.

Tscha, denn man Prrroouust, sagt Karl.

Ich sage: Prost, es kommt sofort ein neuer Korn und Karl sagt Prost, dann ich, dann er, dann  kommt auch schon das Bier. Prost, sagen wir.

Irgendwo fängt eine Kirche an, mit einer Glocke zu lärmen, um die Erb-Sünde aufzuwecken. Wir bestellen eine neue Runde.

Ein Riese, den sie früher als Hafenkran eingesetzt haben, redet den beiden Schwankern am Tresen gut zu, auf hamburgisch. Und als sie nicht aufhören, zu schwanken, schiebt er das ganze Paket Suff auf die Straße. Aber sie fallen nicht hin, schwanken draußen weiter.

In einer Ecke sitzt eine Familie. Der Vater ist sturz-betrunken und schwankt im Halb­schlaf vor und zurück. Die Mutter hat die Arme rechts und links von ihrem Glas quer über den Tisch gestreckt und redet unaufhörlich mit ihrem Bier, das nicht antwortet. Ein vierjäh­riger Junge hat den Kopf an den Vater gelehnt und schwankt mit ihm. Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft, sagen die Christlich-Konservativen und in dieser Ecke keimt sie, ohne Um­satz zu machen. Wir sind keine Schlaf-Stelle, sagt der Wirt und sie müssen draußen wei­ter keimen.

Prost, sagt Karl.

Zwei Männer mit Musik-Instrumenten kommen rein. Einer sehr nüchtern und gemein, der andre besoffen und schielend. Sie singen das Lied von der Laila und was sie alles mit den Männern gemacht hat. Der Wirt gibt ihnen eine Lage aus, er ist kultur-liebend.

Dann scheißt er seinen Kellner zusammen wegen irgendwas und haut seiner Frau eine runter. Die Frau sagt nichts, wischt sich über das Gesicht und zapft weiter Bier.

An den Wänden hängen Rettungsringe mit vielen Schiffsnamen und vielen Sprüchen vom heldenhaften Absaufen vor Kap Horn. Ein Foto von einem alten Mann hängt da drunter: „Uns Vadder“ steht da. In einer Ecke sitzt eine heulende Frau, die nicht der Rede wert ist.

Ein Betrunkener haut mit einem Plastikhammer auf den Tisch. Irgendetwas ist im Hammer eingebaut, er schreit bei jedem Schlag laut auf.
Einer, den alle Onkel Hein nennen, hat irgendwie die Richtung verloren und wird weiterge­reicht  zur Toilette. Aber er bleibt trotz der Hilfe der ganzen Gesellschaft nicht auf dem rechten Weg. Vor der  Toiletten-Tür fällt er hin und hat vergessen, wie man aufsteht.
Der Wirt brüllt den Kellner zusammen.

„Hej pisst oss sunst inn Gang, nich. Des musst doch seehn, Mann!“ schreit er den Kellner an, der es nun sofort sieht und Onkel Hein in die Toilette schleppt.

Der Schnaps läuft mir in den Körper und wenigstens eins will ich heute richtig machen, ich will mich richtig besaufen.

„Wegen eine Frau?“ fragt Karl, und Proooust, secht Kooarl.

„Eine blonde“, sage ich und „Prooust“, sech ick.

Da gibts nämlich nichts mehr zu reparieren, sage ich. Prrouust.

Na, dann lass se doch, sagt Karl.

Das sagste so.

Tscha, denn ma Prooust, secht Koarl.

Tscha, denn bestell ich man noch n Lütt n Lütt, sech ick.

Und dann erzählt er von seiner Blondinen, die braun-haarig ist, aber sehr lieb. Sie lebt nun mit dem Krischan zusammen, was sein Freund ist, aber alle 14 Tage darf er doch mal auf seine Frau. Das bringt alle Emotionen hoch bei ihm und er verirrt sich in diesen vielen Wörtern, aus denen die deutsche Sprache besteht. Er nimmt das Glas und sagt: So is es mit meine Evelyn. Tscha, denn man Prooust, sag ich und mehr bleibt ja auch nicht zu sagen.

Irgendeine schwere Hand liegt plötzlich bei mir auf der Schulter.

„Ich werf dich zum Fenster raus, glaubst nich?“  fragt mich einer, dem ich es glaube.

„Hej secht, sag ich, wenn du nich mit uns supen wisst, denn kannst auch nicht mit uns haun, nich??“ Damit ist seine Gehirnleistung erschöpft und er wird friedlich. Er nimmt das Glas, das ich ihm hinhalte.

Prooust, secht Kooarl. .

Prooust, secht de Keerl.

Proooust, sech ick.

Und so philosophieren wir noch eine Weile bis der Fischmarkt fast sauber ist.

weiterlesen: zum Jahr 1966

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