Eine europäische Biografie

Schlagwort: Berlin

1968: Zodiak, Musikgeschichte und eine Pleite

Das ehemalige Schaubühnen-Gebäude am Halleschen Ufer 2017. Foto: Ulrich Horb

Ich verdiene seit langem wieder mal richtig regelmäßig Geld. Und bald will ich Millionär werden. Dazu will ich einen riesigen Musik-Schuppen aufmachen, wie es sie in New York gibt, Live-Musik, langhaarige Typen.

Mit einem älteren Kneipen-Besitzer aus Kreuzberg, Leopold Unger, genannt Poldi, der die Künstlerkneipe „Malkasten“ betreibt, mache ich das Zodiak auf. Wir pumpen uns dazu Geld bei der Bank. Ich habe damals eine mystische Phase, lese die Kabbala und alles über den Hexenkult, auch über Astrologie und da bin ich auf Zodiak gestoßen, die Tierkreiszeichen. Passt gut zu Belladonna oder Mescalin und natürlich zu diesem herrlichen mexikanischen Gras. Aber vielleicht sind es auch die Musiker, die zur Namensgebung beitragen, die mit ihren elektronischen Geräten für kosmische Klänge sorgen und im „Zodiak Free Arts Lab“ zusammenkommen, Musiker wie  Conrad Schnitzler, oder Hans-Joachim Roedelius. Weiterlesen

1967: Prinzenstraße

Prinzenstraße, Kreuzberg, 1967

1967 bin ich nach Kreuzberg gezogen, in die Prinzenstraße 15. Ein altes Haus aus der Zeit der Sozialisten-Gesetze, aber mit Innen-Toilette für den gehobenen Arbeiter, der einen Kohle-Badeofen zu schätzen weiß, einmal pro Woche. Das Berliner Zimmer, riesengroß, dazu noch ein weiterer großer Raum, in dem ich wohne. Für das andere Zimmer habe ich keine Möbel, es steht leer, hat aber zwei Schlafsäcke auf dem Boden für Gäste.


Prinzenstrasse: großes Zimmer in einem Abrisshaus. Möbel vom Sperrmüll, aber eine große Studio-Tonband-Maschine für die Musik. Dort habe ich von 1967 bis 1972 gewohnt. Es war ein offenes Haus. Foto: privat

Im Wohnzimmer liegt eine doppelte Bett-Matratze, Teppiche ringsum, eine Staffelei und ein großes Brett über zwei Kästen als  Schreibtisch, später ersetzt durch einen Rokoko-Tisch aus einer Wohnungs-Auflösung, leicht angeschlagen. Es gibt keine Stühle. Die Gäste sitzen auf Kissen, auf dem Fußboden. Weiterlesen

1965: Arbeit bei der Bank

November 1965

Das Jahr 1965: Im Herbst komme ich aus Schweden zurück nach Berlin, mitten hinein in die kleinen und großen Probleme. Nichts hat sich geändert. aber das Studium ist inzwischen völlig sinnlos geworden.

Noch bin ich eingeschrieben bei der Freien Universität, immer noch Philosophie, aber ich habe nicht vor, in die Vorlesungen zu gehen. Das Studium ist schon fast erledigt. Es ist ein surreales Studium, Hegel und so‘n Zeugs. Ich kann das inzwischen nur noch als experimentelle Lyrik lesen.

Mehr:  Ich lerne denken – Mein Philosophie-Studium

Soll ich etwa Philosoph werden? Was für eine blöde Idee. Vielleicht in einer Werbe-Agentur philosophischer Fach-Referent zur Vervollkommnung der daseins-bezogenen Umsätze werden?

Ja, das hätte ich mir alles zum Beginn des Studiums überlegen sollen. Hab ich aber nicht. Und so sitze ich in den Vorlesungen mit dem gesammelten deutschen Unsinn.

In Wilmersdorf, in der Uhlandstraße 60, finde ich eine Wohnung. Es ist ein großer Raum im Hinterhof, ebenerdig, keine Stufen, wohl ein ehemaliges Lager, vielleicht auch ein Fleischer-Laden. Du machst die Tür auf und stehst gleich im Schlafzimmer, das kopfhoch weiß gefliest ist, mit einem Öl-Ofen, einer Toilette und einer Koch-Ecke.

Ich finde bei den Trödlern Bett-Matratzen, die auf dem Boden liegen. Ein paar Bretter auf Kisten gelegt, das ist der Tisch. Das Wichtigste aber ist die Musik-Anlage.
Ein Uher-Tonband-Gerät mit 38-er Geschwindigkeit und großen Spulen, abgestaubt in einem Aufnahme-Studio. Ein großer Verstärker, dazu habe ich Lautsprecher-Boxen selber gebaut, jede etwa ein Meter hoch, ein Meter tief, Riesen-Klopper, unverkleidet, rohe Bretter. Wenn ich die Bässe aufdrehe, kann ich den Nachbarn im Stock über mir aus dem Bett schütteln.

Die Wohnung ist nicht weit weg vom Kudamm, ich bin mal wieder mitten drin im Kiez, alle wichtigen Kneipen sind in Reichweite.

Mit Chris läuft es nicht mehr, deutlicher: es ist aus, endgültig.

Sie will heiraten, ein Kind haben. Für mich ist das, so schreibe ich ins Tagebuch, das Ende meiner Laufbahn als Genie und Welt-Veränderer. Wir einigen uns: ich will nicht und sie macht Schluss.

Ich schütte Alkohol in mich rein und trauere tagelang, bis ich kein Geld mehr habe.

Ich arbeite bei der Bank

Dann bekomme ich Arbeit bei der Bank. Die Zentrale ist in einem Rotlicht-Viertel, Straßen-Strich, irgendwie passend für eine Bank, finde ich. Im Seitenflügel ist mein Büro, mit drei anderen sind wir die Abteilung, die eine Unterabteilung ist von einer Sonderabteilung, die Geld holen muss von Leuten, die keins haben. Sie heißt „Abteilung für not-leidende Kredite“.  Bei der Bank sind die Kredite not-leidend, nicht die Menschen.

Manche von ihnen glauben, dass sie, wenn sie gute Gründe haben, ihre Klein-Kredite nicht zurückzahlen müssen. Da kennen sie aber unser Wirtschafts-System schlecht.
Wir haben bei unwilligen Kunden so einige Möglichkeiten: die Mahnung, die grobe Mahnung, beschimpfende Mahnung, die Mahnung mit Androhung des Gerichtsvollziehers, die Mahnung mit der Aussicht auf ewige Verdammnis oder Lohn-Pfändung.

Wir schreiben Briefe oder schicken einen Außendienst-Mitarbeiter los, der dafür sorgt, dass die ganze Nachbarschaft Bescheid weiß.

Natürlich versuchen die Schuldner sich zu wehren, mit ihren Mitteln. Manche arbeiteten einfach nicht und deswegen kann die Bank auch nichts pfänden.

Einige nutzen volksübliche Mittel. Sie verhauen den Außendienst-Mitarbeiter oder kündigten wenigstens an, ihm kräftig die Fresse zu polieren. Das Gefängnis schreckt sie nicht. Es ist häufiger komfortabler als die Wohnung und das Essen ist auch besser. Nur mit dem Alkohol ist es schlechter. Die wirkungsvollste Methode aber ist, einfach nicht zu arbeiten oder wenn sich das nicht verhindern lässt, schwarz zu arbeiten.

Wenn wir vier morgens an unseren Schreibtischen sitzen, werden natürlich zuerst die Zeitungs-Nachrichten durch-gekakelt. Diese Schauspielerin, wie heisst die denn noch, die mit den drei Pudeln, die hat doch diesen Industriellen geheiratet, ein Versehen, sagt er…

Ein Sachbearbeiter, der immer gebückt geht, evolutionäre Anpassung, findet manche Menschen doch sehr unbeherrscht. So diesen Mann, dem die Freundin mit einem Stöckelschuh einen Zahn ausschlägt, worauf er sie erdrosselt. Das ist, findet der Kollege, nicht verhältnismäßig.

Ein Kollege erzählt noch von der Brustentzündung seiner Frau und bezweifelt die Qualität des Krankenhauses. Ein anderer meint, die Brüste sind heute auch nicht mehr, was sie mal waren. Aber so richtig begeistern kann die Entzündung keinen. Wenn jetzt niemand eine Idee hat, müssen wir bis zum Feierabend arbeiten.

Wir versuchen es noch mit der Zeitungsgeschichte über eine verpfuschte Fehlgeburt, bei einer von diesen Schauspielerinnen, die nur über Fehlgeburten in die Zeitung kommen.
Weil niemand mehr eine gute Idee hat zum augenblicklichen Gesellschafts-Geschehen, fangen wir an zu arbeiten.

Zu meinem Job gehört es auch, jeden Morgen die Berliner Zeitungen durchzusehen nach Schlagzeilen wie „Selbstmord“ oder „War er der Mörder mit der leisen Stimme?“ oder „Toter hing im Grunewald“. Wir überprüfen dann, ob das einer unserer Kunden ist, der sich auf diese Art seinen Verpflichtungen entziehen will und der auch noch einen Abschiedsbrief zurücklässt, in dem er der Bank sein Mitleid ausdrückt wegen der Nicht-Zahlung und ihr alles vererbt, was er besitzt: „Hiermit trete ich alle meine Schulden an die Bank ab.“

Aber so kommt er nicht davon. Diese Schuldner glauben, wenn sie im Himmel sind, kann sie ein Zahlungsbefehl nicht mehr erreichen. Kann sein. Es ist natürlich bedauerlich, dass die Ablass-Scheine von der Kirche nicht mehr verkauft werden, war ein gutes Geschäft, aber wenn wir schon nicht die Seligkeit pfänden können, dann aber die Briefmarken-Sammlung des Erben. Wie die regierende Partei immer sagt: die Familie ist das Fundament der Gesellschaft und deswegen verantwortlich auch für die Klein-Kredite der familiären Selbstmörder.

Für solche Dinge beschäftigen wir einen Außendienst-Mitarbeiter. Er besucht die Familie des Toten und überzeugt die Ehefrau des Lebensflüchtigen, dass sie die moralische und geldliche Schuld des Mannes übernehmen muss. „Sie lieben doch ihren Mann?“ fragt die Bank, „und wenn sie ihn lieben, warum zahlen sie dann nicht?“

Das sieht die Frau dann ein, und, um das Unrecht, das ihr Mann der Bank antat, wieder gut zu machen, zieht sie freiwillig ins Obdachlosenasyl und arbeitet als Putzfrau für die Bank.

Der Außendienst-Mitarbeiter macht den Job schon sehr lange und weil sich die Schicksale der Armen immer wiederholen und die Aktenvermerke darüber langweilig sind, hat er, nach und nach, die Berichte erweitert zur Sozial-Literatur. Er beschreibt, wie blau das Gesicht der Ehefrau ist, nachdem der Mann sie verprügelt hat und ein Nachbar hat gesehen, dass die Frau den Mann durch die Tür gestoßen hat, die ganz aus der den Scharnieren fiel. Sehr emanzipiert, die Frau.

Dann nehme ich mir die Briefe der Schuldner vor.

Da schreibt einer der Kunden: „Sie können mir nicht drohen, dass haben Sie ja schon festgestellt. Ich bin ohne Arbeit und bleibe ohne Arbeit solange es mir gefällt, daran können sie nichts ändern. Wenn Sie mir Schwierigkeiten machen wollen, dann können Sie sich das Geld von dem Mond holen. Worauf sie sich verlassen können, so wahr ich Hinze heiße. Ich wäre bereit jeden folgenden Monat 1 mal 25 mtl zu zahlen, aber nur wenn sie mich in Ruhe lassen und mit Ihrem blöden Gebettel endlich aufhören.“

„Abtrittserklärung! Trete meine Schulden mit Zinsen, ungefähr DM 609, — an die Bank ab.“

„Hierdurch möchte ich Sie bitten, von meinem Einverständnis Abstand zu nehmen, da ich leider nicht in der Lage bin, es aufrecht zu halten.“

Das hört sich schon an wie die Argumente eines Unternehmers, der zu viele Schulden hat, als dass man ihn pleite gehen lassen könnte.

Manche reihen sich ein in die übliche Kapitalismus-Kritik, die Enteignung von Banken für eine gute Idee hält.

„Ich bin seitens Ihrer Kreditabteilung in meiner furchtbaren existenziellen und menschlichen Lage bedroht und von der täglichen Arbeit physisch völlig erschöpft. Ich bin nicht in der Lage für ein notwendiges Leiden die Mittel aufzubringen, wodurch ich mir für mein zukünftiges Leben großen Schaden zufüge.“
Hat nicht gewirkt.

Und natürlich haben wir gerade Kalten Krieg und entsprechende Argumente: „Durch Ihre ausgeklügelte Taktik haben Sie aus meiner Ehefrau und mir ein Wrack gemacht. Ich gebe Ihnen eine letzte Frist, die Angelegenheit ins Reine zu bringen, da Sie mich durch ihre Macherei an den Rand des Selbstmords getrieben haben und dazu noch meine liebe Ehefrau. Sollte ich das Geld bis zum … nicht haben, werde ich mich an die SED-Kreisleitung wenden und Ihre gemeinen Schandtaten, die Sie an mir und meiner lieben Ehefrau begingen, mitteilen.“

Bei manchen Kunden bricht bei unserem Außendienst-Mitarbeiter der Zille durch: „Sie ist im Gesicht vollkommen demoliert und grün und blau. Oben und unten, Nase, Mund und was sonst noch im Gesicht vorhanden, alles dick blutunterlaufen. Sie begründet meine nicht ausgesprochene Frage damit, dass sie heute Nacht sich mit ihrem Freund Herrn G. ein bisschen gebolzt hat, aber nur aus Spaß.“
Die Nachbarin berichtet anschließend, vorige Woche wäre Herr G. durch die Türfüllung gefallen.
Die Bank respektiert diese Kreuzberger Eigenheiten. Der Kredit wird gestundet.

Bei anderen ist er hart wie ein Banker: „Er ist ein Spieler und Trinker, doch soll er sich gebessert haben, jetzt trinkt er nur noch.“ Bericht des Außendienstes, Kreuzberger Kurz-Biografie.

„Ich danke Ihnen, dass sie sich meiner Bitte angenommen haben und überreiche Ihnen anbei meine Lebenshaltungskosten. Mit dem Rest kämpfe ich um die Wiederherstellung meiner rechtlichen Ordnung.“
Er muss zahlen.

Zu meinem Arbeitsbereich gehört auch der Buchstabe „D“ und der Sachbearbeiter bringt den Abschiedsbrief des Schuldners D. mit.

“ Liebe Fr. Jacobs, danke für die liebevolle Betreuung. Es war umsonst. Anbei mein restliches Geld. DM 160,–. Bezahlen Sie davon meine Schulden. Die Bank hats geschafft. Passen Sie auf die Oma auf. Ich hab eben immer Pech.“

Natürlich reicht das der Bank nicht, aber es gibt ja Erben, die man rankriegen kann.

Ein anderer Selbst-Mörder: Sein Fall ist kompliziert, weil B. sich an einem Baum erhängt hat, der unter Naturschutz steht. Da ist schon das Abbrechen eines Astes strafbar und die Forstverwaltung könnte dem Erben eine Rechnung schicken und den ganzen Nachlass pfänden. Wie ich aber in der Akte sehe, hat die Bank ein Vor-Pfändungsrecht, so dass der Naturschutz zurücktreten muss.

Ich lege eine Pause ein und schreibe weiter an meinen eigenen Texten.

Zwischendurch sorge ich dafür, dass die Marktwirtschaft funktioniert, schreibe eine Mahnung oder schließe eine Akte, weil es nichts zu holen gibt.

Natürlich mache ich mir immer Notizen über solche Dinge. Das ist zwar streng verboten, aber die Kultur erfordert es und die Schicksale sind es ja auch wert. So wie jene Kurz-Notiz, die ein typisch deutsches Schicksal schildert: „… setzte mich die Eigentümerin glatt auf die Straße und wurde mir nebst Familie ein Pferdestall mit Ehefrau und 2 Söhnen zugewiesen. Und bekam noch dazu vor nicht allzu langer Zeit einen leichten Schlaganfall, was mein Leben sozusagen nach 48- jähriger Arbeitszeit vollständig ruiniert hat. Ich glaubte mit 1945 genügend gestraft worden zu sein (ungewollt), zumal ich noch als alter Frontsoldat aus 2 Weltkriegen (Artillerie-Hauptwachmeister) und sibirischer Kriegsgefangenschaft nach Erfrierung beider Füße (2. + 3. Grades) + Erfrierung des Unterleibs 1946 vorzeitig über Polen als vollständig gebrochener Mensch mit 76 Pfund entlassen wurde.
Aber Sauberkeit und Ordnung herrschen trotz einer leider nervenkranken Ehefrau. Ich will es mir ersparen, weiteres hierüber zu berichten, aber Gottseidank beruhen meine oa Angaben auf purer Wahrheit.
2o Min nach dieser Eröffnung fiel ich wieder ohnmächtig auf dem Fehrbelliner Platz um, dass mich Passanten in die BVG-Halle trugen…“
Brief an die Abteilung Notleidende Kredite.

Kreuzberger Arbeiter-Schicksal. Kredit-Vertrag über 2000 DM, am 13.10.1960 abgeschlossen, unterschrieben von Mann und Frau. Klaus B ist Gießerei-Arbeiter, seine Frau Karin Hilfsarbeiterin.
Der Kredit lief über 2000 Mark. Er verdient pro Woche 167,04 brutto, sie verdient mit Aushilfen pro Monat 37,95 bei einem Stundenlohn von 1,45 DM.
Bis zum 31.10.1961 wurde regelmäßig gezahlt, dann nicht, weil er einen Unfall hatte und krank ist. Seine Frau hat einen Unterleibs-Tumor. Die Bank schickt den Außendienst hin, um zu sehen, ob das alles stimmt. Außendienst (voller Mitgefühl): Klaus B, und seine junge Frau wurden mit Kleinkind, zwei Jahre, in ihrer gemeinsamen Parterrewohnung, Kreuzberg, Hornstrasse, vorn Hausflur rechts, angetroffen und gesprochen:  Die beiden haben sich recht nett eingerichtet und mit nichtneuzeitlichen Möbeln der Wohnung einen wohnlichen Charakter gegeben. Natürlich drückt der Schuh überall. Aber die bisherige Abdeckung des Kredits spricht für beide.
B. hat die schwere Arbeit vor dem Ofen bei den Hüttenwerken Tempelhof durch Krankheit verloren, er ist während des Krankseins gekündigt worden. Er beginnt nun als Vertreter bei einer Firma in Charlottenburg. Der Firmenleiter hat ihm goldene Berge versprochen, die er verdient, wenn er Waschmaschinen, Fernseher und Kühlschränke verkauft. Ich bin sehr skeptisch, und habe ihm auch gesagt, dass er ein schweres Brot gegen ein ungewisses eingetauscht hat. Erst wenn er 14 Tage treppauf, treppab, geklopft und geklingelt hat und keinen Pfennig verdient hat, nur Unkosten, dann wird er selbst entscheiden können und müssen, ob nicht ein falscher Schritt getan worden ist. Frau B hat einen Tumor im Unterleib. Weil die kleine Tochter jetzt in einem Alter ist, in dem es ohne ständige Aufsicht nicht geht, und die Schwiegermutter ist mit dem Schwiegervater bei einer Reisefirma, oft in Westdeutschland und mit auf Fahrt, so dass sie das Kind jetzt nicht verwarten kann. Und die Kindergärten sind alle überfüllt und nehmen keine Kleinst-Kinder an, wo so viele Omas ausgefallen sind, die im Osten wohnen.
Stimmt alles.
Die Omas konnten nach dem Bau der Mauer nicht mehr kommen.
Der Kredit wurde von der Bank gestundet.

Ich habe so einige Dutzend Notizen gemacht, eine Kurzversion der Lebensläufe von notleidenden Schuldnern.

Die dralle Frau

Wie immer bei langweiliger Arbeit, machen sich die Menschen Rituale, damit die Zeit schneller rumgeht. Eines meiner Rituale nenne ich „Schriftverkehr“. Es soll mich näher an den Feierabend bringen.

Die Bank hat eine zentrale Schreibstelle. Dort stehen Halb-Automaten, die Briefe schreiben, jeder so groß wie ein Klavier. Sie schreiben Form-Briefe, werden gesteuert von Lochbändern. An bestimmten Stellen stoppt der Apparat und der Sachbearbeiter muss dann etwas einfügen, den Namen oder eine Schuld-Summe.
Dann rattert die Maschine weiter zum nächsten Stopp: „Wie wir aus den Unterlagen ersehen, haben Sie die letzten Raten Ihres Kredits in Höhe von… „. Sie hält an und nun muss der Betrag eingesetzt werden. Dann rattert weiter bis zum nächsten Stopp und noch einen und beim 4. Stop habe ich dann eingesetzt: „sehen wir uns gezwungen, gerichtliche Maßnahmen gegen Sie einzuleiten“. Dann schreibt der Lochstreifen den Brief fertig: „Mit überquellender Liebe….Ihre Bank“.

Jeden Tag gehe ich in den Schreibraum, auf einem Zettel habe ich die Lückenfüller-Texte. Es ist ein kleiner Raum, sehr laut. Das Schönste an all den Schreibautomaten ist die Schreibdame. Die Dame ist allein im Zimmer, weil der Automat so laut rattert. Das finde ich wirklich toll.

Die Frau ist ganz nach meiner Phantasie. So um die 30 und überall sehr drall. Sie trägt ein Kleid mit roten Rosen und großen Brüsten. Das Rot der Rosen ist von ganz vollendetem schlechten Geschmack, ganz grell und beißt sich mit dem Rot des Lippenstifts, ein Signalrot für Alarmstufe 3.

Das passt gut, denn ihr Kleid ist sehr eng, mindestens zwei Nummern zu klein und die kleinen Speckfalten drückten sich deutlich ab und oben quellen zwei wunderschöne Brüste über den engen Ausschnitt, jede so zwei Handvoll groß. Und am unteren Ende des Kleides spannt der Hintern und vorn am Schamhügel wirft der Stoff phantasievolle Falten.
Es ist sicher eine Erleichterung, denke ich mir, wenn ihr jemand das enge Futteral auszieht, was ich sofort mit den Augen mache. Sie hat nichts dagegen und ich sehe durch den Stoff die knubbligen Beine und kräftigen Schenkel, die in einem dieser Schlabber-Slips enden, die gut geeignet sind für Handgriffe.

„Na, was haben Sie denn wieder Schönes?“ fragt sie und ich gebe ihr den Zettel und einen Kuss auf die Schulter und sage ihr, dass ich sie im 5. Stock sehr vermisst habe zwischen all diesen Briefen von Selbstmördern und Bankdirektoren.

Sie weiß, dass sie mir nun den Rücken zudrehen muss, so steht es in den Frauen-Romanen. So kann ich ihr von hinten um die Taille fasse, nach oben streiche, wie es sich gehört für einen wilden Knaben, der das Röslein bricht, und sie sagt: „Nicht doch.“ und schaut mir in die Augen, so tief, dass ich es in der Hose spüre.

„Wenn nun jemand reinkommt?“ sagt sie. „Ich habe den Hebel umgelegt an der Tür“, sage ich und sie nimmt den Stapel Zettel, auf denen die Lücken-Füller stehen für die Maschinen und sie sagt: „Das ist aber ein dicker Stapel“, sagt sie und nimmt die Zettel mit den Brief-Bausteinen, legt sie in ihren Schoss und prüft einen nach dem anderen. „Sehen Sie mal“, sagt sie, „da haben Sie was vergessen.“ Sie hält mir den Zettel mit dem Fehler hin und ich beuge mich über sie und sie riecht nach 2 Liter Parfüm, vermischt mit ihrem Sexualgeruch, den ich mir wahrscheinlich nur einbilde.

„Bei diesem Schuldner müssen wir nicht so höflich sein,“ sage ich, „er verprügelt immer seine Frau. Unser Außendienst-Mitarbeiter schreibt, dass sie im Gesicht ganz blau und grün geschlagen ist.“ So schlimm, dass sogar dieser harte Eintreiber Stundung empfiehlt. Doch die Frau ist auch nicht ohne. Eine Nachbarin sagt, dass sie ihn neulich durch die Tür geschmissen hat, sie nennt es „kleine Bolzerei“.  „Na das ist ja eine lebhafte Ehe,“ sagt meine Schreibdame, „bei uns zu Hause passiert nie was.“

„Mögen Sie ein Bonbon“ und sie schiebt mir eins in den Mund. Sie steht dabei auf und ihre großen Brüste kommen in Griffnähe. Ich denke, sie müsste nun sagen „mein Mann versteht mich nicht“, dann könnte ich weiter machen. Sie sagt: “Mein Mann findet dies Kleid ja aufdringlich“. Noch besser, denke ich und sage: “Aber nein doch. Ich finde die Rosen sehr echt, besonders die Blüten“, sage ich und zeige mit dem Finger auf die echten Blüten direkt auf der Brust. „Finden Sie?“ fragt sie und am Brustansatz hat sie eine Gänsehaut. Es funktioniert, denke ich und umfasse leicht die Wölbung. Sie lehnt sich zurück und löst dabei den Automaten aus, der zum nächsten Stopp rattert. Sie fühlt sich von der Maschine ertappt und sitzt wieder ganz gerade und sagt: „Also bis zum nächsten Mal“ und ich denke, heute war ich schon weiter als gestern und sage: „Bis zum nächsten Mal“ und nach einer Pause „Ich hab da sehr gern angefasst.“ Sie schaut schnell auf die Maschine und alle Rosen haben wieder Dornen.
„Ihre Texte schreibe ich morgen“, sagt sie und ich küsse die Schreibdame noch mal auf den Hals und bedanke mich bei den Rosen an den Brüsten und sie sagt: „Bis morgen.“ Und sie lacht auf eine wirklich versaute Art.
Ich gehe wieder in den fünften Stock, ziemlich sauer auf diese Schuldner, die nicht zahlen und mir nur Arbeit machen.

Zurück im Büro. Dort schreibe ich noch einen Brief an meine augenblickliche Freundin, bei der es wirkungsvoller ist, wenn ich ihr was Schriftliches gebe, was Literaturähnliches, das sie vielleicht abhält, weiter fremd zu gehen.

Aber es ist schon kurz vor Feierabend und ich nehme mir vor, statt Brief eine Flasche Schnaps mit nach Hause zu nehmen und falls sie nicht da ist, kann ich ihn alleine trinken. Immer noch besser, sage ich mir, als wenn du wieder anfängst, Literatur zu schreiben.

„Also, dann bis morgen“ sagen die Bank-Angestellten zu einander und gehen nach Hause zu ihren Frauen. Die haben sicherlich alle rosa-fleisch-farbene Unterhosen an, während sie Kohlrouladen servieren, während der Mann von den bedenklichen Entwicklungen in der Gesellschaft redet, während die Frau sagt: „Ich habe etwas abgenommen, findest du nicht auch?“ und sie zeigt ihm Hüfte und Hintern und er fühlt: tatsächlich, sie hat da abgenommen.

„Was hältst du von einer Flasche Sekt, mein Schatz?“ sagt sie und er hält was davon. Beide wissen, das ist der Start in ihr heißes Wochenende. Es fängt mit Sekt an und bald träumen beide von Tarzan, sie unten und er oben.

Die Bank war zufrieden mit mir, bot gar einen richtigen Arbeitsvertrag an. Aber das wäre doch wirklich das Letzte, wenn ich am Ende bei einer Bank landen würde.

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1975: Der Betriebsrat und die Betriebsfeier

1975 arbeite ich in einer Firma, die Schilder herstellt und bin Betriebsrat. Am Morgen dieses kalten Wintertags bleiben die Werktore ge­schlossen. Gleich am Eingang sagt es der Geschäftsführer den Mitarbeitern und die wollen es zuerst gar nicht glauben. Sie sehen hinter den Fenstern die Herren von der Geschäftsleitung herumlaufen, telefonieren. Die schicken den Betriebsrat vor, da mal nachzufühlen. Vielleicht ist der Chef abgestürzt mit seinem Sportflugzeug, vielleicht hat er die Firma verkauft, gedroht hat er schon öfter. „Was soll der Unsinn?“ fragt der Betriebsrat.

Unsinn sei das nun gerade nicht, die Leitung verbittet sich das. „Was soll denn dann die Aussperrung?“ fragt der Betriebsrat.  Aussperrung ist es auch nicht. Die Herren haben ernste Gesichter.

Draußen ist auch Kälte. Die Kollegen kommen in der Kantine der Nachbarfirma unter, da ist es warm, da warten sie auf das Erscheinen des Hauptchefs aus Hannover. Was war da bloß geschehen?

Im kleinen Konferenzsaal haben sich die Herren der Leitung versammelt. Die Szene ist aufgebaut wie das Jüngste Gericht. Der Chef sitzt am Kopfende des langen Tischs, zur Rechten wie zur Linken die Unterchefs, auf allen Gesichtern ist Weltuntergang.

Die Herren von der Berliner Leitung haben Gesichter wie Heulen und Zähneklappern und Schreibblöcke vor sich, auch ein Tonbandgerät. Diese Sitzung wird festgehalten für die Ewigkeit.

Der Chef hat zumindest seine Herren überzeugt, wie gefährlich er ist, wie er zuschlagen wird gegen diesen Betriebsrat. Wie er draufhauen wird, Wumm, wird er draufhauen.

Jetzt ist der Betriebsrat geliefert. Soll ich Ihnen mal sagen, was ich machen werde, sagt der Chef: Ich schmeiße diese roten Kerle alle raus, das werde ich machen.

Er hat diesen Betrieb mit eigenen Händen aufgebaut. Er lässt sich das nicht kaputt machen von dem linken Gesindel, „verstehen Sie das?“ fragt er seine Unter-Chefs. Die verstehen das.

Die drei Betriebsräte werden hereingerufen müssen stehen vor dem Tisch, an dem die Geschäftsleitung sitzt, hinter einer Mauer von Entschlossenheit.

Die Betriebsräte betreten den Raum und sagen „Guten Morgen“.

Die Herren sind verdutzt, schauen den Chef an. Ist das wieder so ein Trick von diesem Betriebsrat? Was ist das? Warum stottern diese Kerle nicht rum?

Dann sagt der Chef „Guten Morgen“ und danach sagen alle Herren von der Berliner Leitung „Guten Morgen“.

Die Betriebsräte packen ihre Taschen aus. “Hast du einen Bleistift?“ fragt der eine, „möchtest du einen Bonbon?“ fragt der andere. Nein danke, nichts Süßes so früh am Morgen.

Das Jüngste Gericht wird ungeduldig. Setzen Sie sich, sagt der Chef.

„Setzen wir uns doch“, sagen die Betriebsräte.

„Meine Herren“, sagt der Chef mit stahlhartem Blick. So was lässt dem Gegner den kalten Schauer den Rücken runterlaufen, wenn es gut gemacht wird.

„Meine Herren“, sagt der Chef schneidend, „ich verlange Ihren sofortigen Rücktritt.“

Peng, das sitzt!

Die Herren der Leitung schauen auf die drei Sünder.

„Warum?“ fragte der Betriebsratsvorsitzende.

„Was warum?“ fragte der Chef.

„Warum verlangen Sie unseren Rücktritt?“

Wie soll sich ein Chef nun verhalten bei solch unsinnigen Fragen? Er geht einfach drauf ein.

„Wegen der gestrigen Vorkommnisse“ sagt der Chef: Wo bleibt das Geständnis?

„Welche Vorkommnisse?“ fragt der Betriebsrat.

„Ich verlange Ihren Rücktritt“, brüllt der Chef. Eigentlich soll ja ein Chef nie brüllen, aber er ist ja auch bloß ein Mensch. Alle Herren der Geschäftsleitung wechseln das Gesicht von ernst auf zornig.

„Wegen der gestrigen Vorkommnisse“, brüllt der Chef. „Der ganze Betrieb war besoffen“, brüllt er. „Sie haben das gefördert“, brüllt er. „Alles ist kaputt, es gab eine Messerstecherei. Ich verlange Ihren Rücktritt!“

Er ist sehr überzeugend in seinem Zorn.

„Welche Paragrafen?“ fragt der BR. „Was?“ fragt der Chef. „Welche Paragrafen?“ fragt der BR. „Wieso? Welche Paragrafen?“ fragt der Chef.

„Gegen welche Paragrafen haben wir verstoßen?“ fragt der BR.

Der Chef stutzt. Was fragt ein gerechter Zorn nach Paragrafen, fragt er sich.

Andererseits: Er hat nun schon zu viele Prozesse verloren.

Er schaut seine Leute an, aber die sagen auch nicht wie diese Paragrafen heißen, dafür machen sie sich eifrig Notizen, den Kopf eingezogen.

Nun gut. Der Chef wird diese Paragrafen eben selber finden. „Wollen Sie etwa bestreiten, dass gestern getrunken wurde?“ fragt er drohend.

„Haben wir getrunken?“ fragt der Betriebsrat. „Haben Sie nun getrunken? Sie haben das nicht verhindert“, ruft der Chef, „auch nicht die Messer­stecherei, Tische wurden  umgeworfen, Stühle, einige waren so betrunken, dass sie bei den Kunden nur noch gelallt haben….“

Fassen wir also zusammen, sagt der BR. Sachbeschädigung, Körperverletzung, Saufen am Arbeitsplatz, alles Verstoß gegen die Betriebs-Ordnung, alles Kündigungsgründe. „Richtig“ sagt der Chef.

„Wer von uns hat Sachen beschädigt?“ fragt der BR. „Herr Abteilungsleiter“ sagt der Chef, „Wer hat welche Sachen beschädigt?“ „Ah“ sagt der Abteilungsleiter. „wer genau das war, kann ich nicht sagen, aber Tische wurden umgeworfen, Werte wurden zerstört. Einige haben gelallt…der Betrieb sieht aus wie ein Saustall“, sagt der Abteilungsleiter.

Der Chef hat eine Idee. Vielleicht sollten sich alle mal den Saustall ansehen, damit alle sehen, wie es aussieht, was ihm am Telefon beschrieben wurde.

Der Chef und sein Gefolge betreten die große Fertigungshalle.

Es ist sehr kalt. Gleich vorne um den Packtisch liegen unzählige Zigarettenkippen am Boden, Glasscherben.

Der Chef spricht in das Mikrofon seines Tonbandgeräts: „Ich befinde mich am Packtisch. Rings um den Tisch liegen ein, zwei, äh, 6, liegen 11 Kippen, drei leere Bierflaschen. Richtig?“

„Richtig“, sagt der Betriebsrat.

„Hier ist noch ein kaputtes Glas“, sagt ein BR.

„Das ist nur ein Glasboden“,  korrigiert ein anderer BR.

Der Chef kennt diese Tricks, er geht gar nicht drauf ein, er geht zur Schlosserei.

Da stehen nun besonders viele Flaschen herum, liegen besonders viele Kippen am Boden, denn die Schlosser sind im Betrieb bekannt für Saufen und Rauchen und bei der gestrigen Feier waren sie wieder vornweg.

Der Chef sagt ins Mikrofon: „Ich befinde mich nun in der Schlosserei. Hier liegt eine zerbrochene Bierflasche, hier stehen viele leere Bierflaschen. Richtig meine Herren“?  fragt er. „Richtig“, sagen die Betriebsräte.

„Äh“, sagt der Berliner Betriebsleiter. Die Herren warten. Der Berliner Betriebsleiter ist ein guter Betriebsleiter, aber die Herren wissen, wie langsam er ist. Wenn er „äh“ sagt, will er etwas sagen. Die Herren warten.

„Dies sind gebrauchte Pfosten“, sagt der Betriebsleiter. Sehen Sie sich das an, ruft der Chef. Er hat eine Schnaps­flasche gefunden.

Alle Herren sehen sich das an. Es ist eine Schnapsflasche.

„Hier liegen besonders viel Scherben herum“, sagt der Chef ins Mikrofon, „bitte überzeugen Sie sich selbst.“

Alle überzeugen sich selbst: Es liegen besonders viele Scherben herum.

Dann fragt der Chef den Betriebsrat zum letzten Mal, ob dieser zurücktreten will. Falls nämlich nicht, wird er nämlich das Gewerbeaufsichtsamt holen, sagt er. „Gut“, sagt der BR, „holen Sie das Gewerbeaufsichtsamt!“ „Herr Abteilungsleiter“, sagt der Chef und seine Augen blitzen. „Holen Sie das Gewerbeaufsichtsamt.“

Während die Herren warten, lässt sich der Chef berichten, wie gestern hier, in seinem Betrieb gesoffen wurde. Schon am Mittag hatte es angefangen, erst Bier, dann Schnaps, dann mehr Schnaps, dann mehr Bier, dann diese Messerstecherei.

„Erzählen Sie“ sagt der Chef.

„Das war so“ sagt Herr P. „Ein dicker Arbeiter ist hinter diesem Angestellten hergelaufen mit einem Messer und hat gerufen: Ick stech dir ab! Der Angestellte war viel schneller und hat gerufen: Komm doch, du Fettwanst! Die anderen haben beide angefeuert.

Der Chef ist entsetzt. Mord und Totschlag in seinem Betrieb, den er mit seinen eigenen Händen aufgebaut hat, all die Jahre, Subventionen hat er locker gemacht dafür, geschuftet auch… „Das war sicherlich ein Scherz“, sagt ein Betriebsrat. „Ein schöner Scherz!“ ruft der Chef und fordert alle auf, zurückzutreten als Betriebsrat.

Dann kommt die Gewerbepolizei.

Sie ist nicht das erste Mal hier, sie kennt den Betrieb. Der Betriebs­rat hat schon den Chef angezeigt und der hat seitdem eine hohe Meinung von der Gewerbepolizei. Nun wird es anders rum gehen, denkt er. Nun wird bald der Betriebsrat eine hohe Meinung haben von der Gewerbepolizei.

„Sehen Sie sich das an“ sagt der Chef. Der Herr im grauen Anzug sieht es sich an. „Da gings ja hoch her“, sagt er.

„Und der Betriebsrat hat zugeschaut“, ruft der Chef. „Nun will er nicht zurücktreten“.

„Was haben wir damit zu tun?“ fragt die Gewerbeaufsicht.

„Hier ist Trinken und Rauchen verboten“, sagt der Chef.

„Was sagen Sie dazu?“ fragt die Gewerbeaufsicht den Betriebsrat.

„Wir haben gewartet mit der Feier, bis der Betriebsleiter drei Cognac getrunken hatte. Danach konnten wir den Leuten das Trinken schlecht verbieten, was wir ja ohnehin nicht können.“

„Was sagen Sie denn dazu?“ fragt der Chef den Betriebsleiter.
„Äh“, sagt der, „äh. So ein, zwei hab ich schon mitgetrunken“.

Das Schweigen ist peinlich. Alle Herren überlegen nun. Es ist eine verzwickte Sache. Der Chef hat recht, das steht fest, aber was geht das den Betriebsrat an?

„Sie sind für die Ordnung im Betrieb verantwortlich“, sagt die Gewerbepolizei zum Betriebsleiter. „Sie müssen das Alkoholtrinken verhindern, Sie sind der Hausherr“, sagt die Gewerbeaufsicht.

Sie spricht eine gebühren­pflichtige Verwarnung aus von 5oo Mark gegen die Geschäftsleitung, weil in den Räumen das Rauchen und Trinken verboten ist und trotzdem geraucht und getrunken wurde.

„Der Betriebsrat hat doch mitgetrunken“, ruft der Chef, „der hat dem Geschäfts­führer doch eine Falle gestellt“, ruft der Chef und „nachdem der getrunken hat, haben  sie gesagt: nun dürft ihr auch…“

„Das stimmt“, sagt der Betriebsrat. Die Leute haben erst gefeiert, als ihr Betriebsleiter mit gutem Beispiel vorangegangen ist.

„Sie hören noch von uns“ sagt die Gewerbepolizei und geht.

Nachgeschichte: Der Chef besteht darauf, dass jeder Arbeitnehmer eine schriftliche Erklärung abgibt, dass er nicht mehr trinken wird im Betrieb. Niemand unterschreibt. Daraufhin wird ein Aushang gemacht fürs Schwarze Brett, dass niemand mehr trinken darf im Betrieb. Damit ist der Betriebsfrieden wiederhergestellt.

1975: Der Betriebsrat und der Lackierer

Die Fabrik in Berlin, in der ich 1975 arbeite, stellt Verkehrsschilder her aus Alu-Blech und Reflektionsfolie und Einbrennlack, feuergefährliches Zeug und deswegen gibt es jede Menge Sicherheitsvorschriften. Außerdem gibt es Stanzen und Biegebänke, Siebdruckrahmen, eine Lackiererei und 25 Mitarbeiter.

Der Betriebsrat hat in den letzten Jahren soviel Prozesse geführt gegen die Geschäftsleitung, dass die Gewerkschaft einen eigenen Sekretär hält für Prozesshilfe.

Alle Prozesse hat der Boss verloren.

Wie der Abteilungsleiter zeigt, wer wem was zu sagen hat.

Vorgeschichte 1: Am Vortag hat der Lackierer ein Thermometer in den Brennofen gelegt. Als es zerschmolzen war, tat es ihm leid, dann hat er es weggeworfen. Der Abteilungsleiter glaubt natürlich kein Wort von dieser Geschichte. Er glaubt, dass der Lackierer das Thermometer gestohlen hat. Er kennt doch seine Arbeiter. „Die klauen alle“, weiß er aus Erfahrung.

Vorgeschichte 2: In den Hallen verdrucken die Maschinen feuer­gefährliche Farben. Rauchen ist deswegen streng verboten. Das gilt auch für betrunkene Mitarbeiter. Trinken ist übrigens auch streng verboten. Das weiß auch der betrunkene Lackierer.

Ein kluger Chef wird daraus nie einen Zweikampf machen. In dieser Geschichte ist aber von unklugen Chefs die Rede.

Heute ist ein heißer Sommertag. Alle Maschinen laufen. Es ist sehr laut in der Halle, es ist langweilig, es ist noch lange hin bis Feierabend. Wie können wir den Tag herumbekom­men außer mit Arbeit?

Unser Lackierer sitzt mit baumelnden Beinen auf einem Tisch und schaut zu, wie die kleine dralle  Martina an der Stanze arbeitet. Mit ihrem kur­zen Röckchen legt sie im Rhythmus der Maschine Folien in die Maschine und die Stanze, rumms, saust runter und Martina schwingt die Hüfte und legt die nächste Folie ein und, rumms, macht die Maschine und Martina bückt sich, damit der Lackierer, so glaubt er, besser unter den Roch schauen kann und legt die nächste Folie ein. Das ist sicher eine gute Art, den Feierabend zu erreichen, nicht wahr?

Genüsslich zieht der Lackierer an seiner Zigarette. Er ist sehr be­trunken. Sein farbverschmierter Lackier-Kittel ist offen über der Brust. Er nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche. Nun kommt die Tragödie.

Der Abteilungsleiter kommt in die Halle. Sofort ist er im Bilde: der Lackierer hat hier nichts zu suchen. Die brennende Zigarette, die windschiefe Haltung. Der Mann ist betrunken, der Mann raucht, wo er nicht rauchen darf! Die Ordnung muss wieder hergestellt werden. „Herr Lackierer“, sagt der Abteilungsleiter, „Rauchen ist hier verboten!“

Ein guter Untergebener wird nun zusammen zucken, die Zigarette verstecken, sie wenigstens aus dem Mund nehmen, wird herumstottern, wird zei­gen, wie peinlich ihm das ist, wird murmeln: „Jawohl Herr Chef, soll nicht wieder vorkommen.“

Der Chef wird dann wissen, wer der Chef ist, wird Gnade walten lassen, weil er den Lackierer ja braucht.

Eigentlich ist der Lackierer ein guter Untergebener. Aber heute ist er, leider, betrunken und er hat die Regeln vergessen, die für Unter­gebene gelten. Er schaut weiter zu, wie die Kleine stanzt, pro Folie hebt sich einmal der Rock. Er raucht weiter, er ist weiter betrunken.

Nun wird aus dem Vorfall eine Prestige-Frage für den Abteilungsleiter. Hier hat nur er was zu sagen, oder nicht? fragt er sich.

Auch die anderen Beschäftigten in der Halle würden das mal gerne wissen. Sie stehen nun um die Beiden herum und möchten doch mal wissen, wer hier das Sagen hat.

In vollem Vertrauen auf die Selbsterhaltungstriebe seines Untergebenen, siegesgewiss, erhebt der Abteilungsleiter die Stimme, bis jeder sie hört: „Herr Lackierer!!“, kleine Pause.  „Verlassen Sie sofort die Halle!“

Angeekelt von der Störung, nimmt der Lackierer den Blick von der Stanze und richtet ihn gelassen, wenn auch glasig, auf seinen Vorgesetzten: „Iss wat?‘ fragt er.

Die Zuschauer kommen gespannt näher. Sollte dies die Art sein, wie wir ohne zu arbeiten den Feierabend erreichen? Ein Drama vor der Stanze?

Wir wollen doch mal sehen, wie nun der Abteilungsleiter das Gesicht wahrt. Der Chef versucht es zuerst mal mit einer Drohung.

„Herr Lackierer!!“ ruft er drohend: „Verlassen Sie die Halle! Sie haben hier nichts zu suchen!“  „Wat iss?“ fragt der Lackierer mit proletarischer Gelassenheit und nimmt einen Schluck.

Was soll der Abteilungsleiter nun tun? Natürlich wird er den Kerl ent­lassen, später. Aber es sind Sofortmaßnahmen nötig, hier und jetzt.

Wie bekommt man einen unverschämten Arbeiter dazu, die höhere Gehaltsgruppe zu respektieren?  Er versucht es über die, wie er glaubt, ungeschützte Flanke. Vielleicht hofft er, der Lackierer würde, wenn schon nicht am verbotenen Zigarettenqualm, dann doch wenigstens am schlech­ten Gewissen ersticken. „Das Thermometer haben Sie auch gestohlen!“ ruft er.

Doch das ist ein schwerer Fehler. Ein Arbeiter muss sich immer im Un­recht fühlen. Willst du Führungskraft sein, mach nie den Fehler, gerechten Zorn zu provozieren.

Der Lackierer ist sofort sehr zornig, richtig entrüstet ist er. Runter vom Tisch springt er und ruft: „Det nehm’se sofort zurück! Det ick ein Dieb sein soll“, ruft er sehr entrüstet. Ein ehrlicher Lackierer hat er es nicht nötig, sich Dieb nennen zu lassen. Das hat er bestimmt nicht nötig. Ist er ein Mensch oder ist er kein Mensch? fragt sich der Lackierer.

„Det nehm’se sofort zurück, det ick ein Dieb sein soll  Nehm’se det zurück? Det nimmste sofort zurück!“ ruft er bis ins Innerste entrüstet.

Der Abteilungsleiter versucht wieder sicheren Boden zu erreichen: die geltenden Vorschriften. „Hier ist Rauchen verboten! Das ist ein Kündigungsgrund! Verlassen Sie die Halle, Herr Lackierer!“

Die Zuschauer machen einen Kreis um die Streithähne. Das hier ist wirklich Action, ein echter Revierkampf: Leithirsch verteidigt Revier gegen Eindringling aus unter­ster Lohnstufe! Und der Lackierer bleibt weiter im Angriff. „Nimmste det zurück?!“ ruft er und geht einen Schritt auf den Verleumder zu. Er ist ganz offensichtlich schwer an der Ehre getroffen.

Ist die Würde des Menschen unantastbar oder ist sie das nicht? Ist ein Lackierer ein Mensch oder nicht? „Nimmste det zurück!“

Der Abteilungsleiter denkt nicht daran. Im Gegenteil: Ist hier Rauchen verboten!

„Det nimmste zurück, du schwule Sau!“ ruft der Lackierer. Schwul, das galt, warum auch immer, damals auch noch als Beleidigung.,

Nun steht Ehre gegen Ehre. „Was haben Sie gesagt?“ fragt der Abteilungsleiter. Er traut seinen Ohren nicht. „Nimm det zurück!“ ruft der Lackierer.

„Das ist eine Beleidigung!“ ruft nun der Abteilungsleiter.

Jeder weiß es nun: der Abteilungsleiter ist beleidigt.

„Sie sind ja besoffen!„ ruft der beleidigte Abteilungsleiter.

Er nimmt den Lackierer nicht ernst, das ist ein schwerer Fehler.

„Wenn de det nich zurücknimmst, denn hau ick dir wat ins Kreuze“, ruft der Lackierer.

Das ist Spitze! Wer von uns hätte das gedacht, als er heute Morgen die Stempel-Karte gedrückt hat. Vielleicht erleben wir noch ein echtes Duell. Der Lackierer ist stärker, aber der Chef ist schneller, weil nüchtern. Die Zuschauer wetten auf den Lackierer.

Der geht, etwas schwankend, aber sehr entschlossen zu einem Regal. Dort liegt ein Brecheisen, mit dem üblicher­weise Kisten aufgebrochen werden. Natürlich kann man damit auch Abteilungsleiter aufbrechen. Der erkennt das sofort.

Ganz zufällig geht er zu einer Tür, die in einen Neben­raum führt. Sie ist leicht zu verteidigen, hat aber den Nach­teil, dass es sonst keinen Ausgang aus dem Raum gibt. Das weiß auch der Lackierer. Er stellt sich vor die Tut, die Brechstange in der Faust, die Zigarette ist ihm runtergefallen. Er ruft: „Ick hau dir wat ins Kreuze!“

Der Abteilungsleiter versucht eine Ablenkung. Durch die Tür sehen alle, dass er auf die Uhr schaut. Sicherlich hat er einen wichtigen Termin. Er sorgt sich um die Sicherheit unserer Arbeitsplätze und hat Besseres zu tun, als sich mit Besoffenen zu streiten, soll das heißen.

„Komm raus, du Sau! „ruft der Lackierer. Er ist sehr überzeugend, wie er da steht vor der Tür, der  Bart gesträubt, der Kittel offen über der nackten Brust, die Brechstange in der Faust,  Empörung im Herzen, die Arbeiterklasse im Rücken und auch die Menschenrechte.

„Komm raus!“ ruft er. Der Abteilungsleiter denkt nicht daran. Ein Arbeitskollege hält die Spannung nicht mehr aus. „Mach dir nich unglücklich, Klaus!“, ruft er. Er hält den Lackierer am Arm fest. Als Klaus merkt, dass er festgehalten wird, ist er kaum noch zu halten. „Halt mir fest, sonst hau ick dem wat ins Kreuze!“ ruft er und zwei weitere Kollegen halten ihn fest. Er lässt sich, als Sieger, als Rächer der Ausgebeuteten, das Brecheisen aus der Hand nehmen.  Er hat diesem Kerl von Abteilungsleiter gezeigt, was Mitbestimmung ist. Vielleicht lässt auch bloß der Alkohol nach.

Laut schimpfend geht der Lackierer in die Lackiererei, wo das Rauchen besonders streng verboten ist, und raucht erstmal eine Zigarette.

Inzwischen hat der Abteilungsleiter das rettende Büro erreicht und er entlässt sofort den Lackierer, fristlos, auf der Stelle. Er will doch mal sehen, wer hier das Sagen hat, er oder so ein besoffener Kerl, der nicht mal halb soviel verdient.

Inzwischen weiß natürlich der ganze Betrieb Bescheid. Der Betriebsleiter kommt ins Büro, die Sachbearbeiter, der Betriebsrat wird gerufen. „Der fliegt!!“ ruft der Abteilungsleiter. Der Betriebsleiter stimmt ihm sofort zu.

Das macht den Abteilungsleiter misstrauisch, denn er möchte selber Betriebsleiter werden und deswegen ist er verfeindet mit dem Betriebsleiter. Warum stimmt er zu? Wo ist der Trick?

Trotzdem: „Der Kerl fliegt!“ ruft er. Alle anwesenden Untergebenen stimmen ihm zu.

Leider muss man vorher den Betriebsrat fragen. Es gibt bereits mehrere Arbeitnehmer im Betrieb, die der Abteilungsleiter im ersten Zorn entlassen hat und die vor Gericht recht bekommen haben. Bloß keine Formfehler mehr!

Der Betriebsrat bestätigt, wie sehr der Abteilungsleiter im Recht ist. Das geht nun wirklich auf keine Kuhhaut, sagt er, seinen Vorgesetzten eine schwule Sau zu nennen. „Wie kommet er denn da drauf?“ fragt der Betriebsrat. „Ja, wie kommt der denn da drauf?“ fragt auch der Betriebs­leiter. Steckt da irgendwas dahinter?

„Besoffen ist der Kerl“ sagt der Abteilungsleiter, voll wie’n Pisstopp“. Und geraucht hat der Kerl, wo er nicht darf. Alle versichern dem Abteilungsleiter wie sehr die Vorschriften auf seiner Seite sind.

Was ist denn nun mit dem Diebstahl?‘ fragt der Betriebsrat.

„Er das Thermometer geklaut!“ sagt der Abteilungsleiter. Ob es denn Beweise gibt dafür, fragt der Betriebsrat.

„Das ist doch klar!“ sagt der Abteilungsleiter. Nie und nimmer hat er das Thermometer zerschmolzen und wenn, dann bestimmt mit Absicht. Ja, der Abteilungsleiter kennt seine Untergebenen.

„Wie kommt der bloß auf schwule Sau?“ fragt der Betriebsleiter.

„Der fliegt fristlos!“ sagt der Abteilungsleiter. „Das wird einen Prozess geben“ sagt der Betriebsrat. „Vorgesetzter nennt Untergebenen Dieb, der nennt ihn schwule Sau. Wer weiß, wie der Richter das sieht?“

„Der fliegt!“   „Es bleibt immer was hängen“ sagt der Betriebsrat. „Sie wissen ja, wie die Leute sind.“ Das sieht der Abteilungsleiter ein. Er weiß wie die Leute sind.

Der Betriebsrat sagt: „Vor Gericht wird das alles öffentlich verlesen. Und Ihre Kunden werden das lesen und fragen: Wie kommt der bloß auf schwule Sau?“

Es dauert noch eine halbe Stunde. Dann sieht der Abteilungsleiter ein, dass er über den Dingen steht. „Natürlich sind Sie im Recht“ sagt der Betriebsleiter. „Das ist klar“, sagt der Betriebsrat. „Aber Sie wissen ja, wie die Leute sind!“

Der Abteilungsleiter weiß wie die Leute sind. Er ist selber so.

Im Betrieb stehen die Mitarbeiter zusammen und diskutieren. Es ist eine unordentliche Betriebsversammlung entstanden, die bis zum Feierabend anhält.

Nun haben wir den Tag gut rumgekriegt. Also, bis Morgen!

 

Nachgeschichte: Der Abteilungsleiter nimmt den Vorwurf des Diebstahls zurück, weil er nicht zu beweisen ist. Der Lackierer nimmt den Vorwurf der schwulen Sau zurück, weil er nicht zu beweisen ist. Der Lackierer bekommt eine strenge Abmahnung, weil er geraucht hat, wo er nicht durfte und weil er getrunken hatte, aber das bestreitet er. „Nur Bier“ sagt er. Es wird am Schwarzen Brett ein Aushang gemacht: „Rauchen ist ab sofort besonders streng verboten! Trinken auch. Wer das nicht einsieht, fliegt! Die Geschäftsleitung.“

Der Abteilungsleiter und der Lackierer sind seit jenem Tag immer besonders höflich zueinander. „Könnten Sie bitte meine Schilder zuerst lackieren?“ fragt der Abteilungsleiter.

„Mach ick,“ sagt der Lackierer.

Denn einer muss ja wohl das Sagen haben im Betrieb, nicht wahr!  Wir sind doch hier nicht bei den Chaoten, ist das klar?

1964: Moralische Geschichten – Karla fährt heiraten

Karla ist die weiblichste Frau, die ich kenne. Lang, schlaksig, wenig Brust, aber mit einem Lachen, so wild weiblich, dass mir flau wird im Magen.

Ich hätte gerne mit ihr geschlafen. Sie hätte wohl auch nichts dagegen gehabt, aber ich habe mich nicht getraut, sie zu fragen, ich wollte mich nicht blamieren
bei ihr. 
Und sie hat mich auch nicht verführt, so war sie nicht! Der Mann musste schon wollen bei ihr. So blieb ich ihr Freund. Sie erzählt mir ihre Geschichten mit den Männern. Weiterlesen

1965: Aschinger

Als es schon dämmert, fällt mir ein, dass ich noch irgendwas essen muss. Ich gehe also zu Aschinger am Zoo, wo es sehr voll ist von Typen, die alle noch keinen Grund gefunden haben, nach Hause zu gehen.

Es ist ein großer überdachter Imbiss, in einer der Baulücken, die von amerikanischen Bomben gemacht wurden. Es ist so gemütlich wie in einer Tief-Garage, aber die Schrippen sind umsonst, wenn man eine Erbsen-Suppe bestellt.

Ein Weltenbummler mit Rucksack am Nebentisch aus dem Wedding braucht noch zwei, drei Bier, bevor er in seinen Hauseingang geht zum Schlafen. Er wankt am Steh-Tisch hin und her und unterhält sich intensiv mit seinem leeren Portemonnaie. Seinen Haushalt hat er in zwei Plastik-Tüten unter den Tisch gelagert.

Zwei junge Mädchen sehen ziemlich zerrupft aus. Sie ziehen die Bilanz der Nacht. Die strähnige Blonde meint, es war ein Verlustgeschäft. Sie hat sich schwer geirrt, weil sie geglaubt hat, dass Vergewaltigung was mit Sex zu tun hat, sagt sie. Er hat mir nur das Kleid zerrissen. Auf der Party haben alle zugeschaut, wie so ein Zwei-Zentner-Mann ihr die Unterhose runtergefetzt hat, die Bluse, ratsch und sie hat laut geschrien, wie sich das gehört und der Kerl hat ihr auch den BH zerrissen, bevor der Gastgeber gerufen hat: „Geht nach nebenan und macht nicht so’n Lärm.“ Mehr war nicht.

„Schau dir das an, alles kaputt“, sagt die Strähnige, „was soll ich denn nun meinem Mann sagen?“ Die Freundin schlägt vor, zu ihr nach Hause zu gehen und ihre Kleider anzuziehen, um den Ehemann auszutricksen. „Der merkt sowieso nichts“, sagt sie, „der iss immer duhn“. Die Strähnige gibt noch eine Runde aus von dem Geld, das sie als Entschädigung gekriegt hat von dem Vergewaltiger.

Ein Paar aus Wanne-Eickel, an einem der Steh-Tische, hat sich die Großstadt ganz anders vorgestellt. Nun ist das Geld weg und sie sind noch nicht besoffen genug, um im Tiergarten unter den Büschen zu schlafen. Sie ist kurz vor den Tränen und legt ihren Kopf in seine Hand und beide sitzen da und denken an die große Liebe, während sie in die Erbsensuppe schauen, um so mehr zu erfahren von der Zukunft. Er streichelt leise ihr Haar.

Ein Paar, er im dunklen Anzug, sie im kleinen Schwarzen, Opern-Uniform, löffelt die Erbsen-Suppe schweigend. Ihnen graut wohl vor dem Heimgehen und dem gemeinsamen Bett. Die Frau muss schon einige Whisky getrunken haben in den letzten 10 Jahren, jede Flasche sieht man im Gesicht. Nun schwankt sie zwischen Ehemann und Fußboden hin und her, nur gehalten von seinem Griff an der Schulter. „Du musst was essen“, sagt er, „sonst kotzt du mir wieder den Wagen voll“, und sie isst die Erbsensuppe und erzählt dem Löffel von ihrem unglücklichen Leben in endlosem Gebrabbel. Sie fürchtet wohl, dass er sie bald austauschen wird durch ein jüngeres Modell mit sechs Gängen.

Ich gehe dann den Kudamm lang in Richtung Wohnung. Am Zuntz, dem Café mit der seligen Witwe, prügeln sich zwei, aber weil sie so besoffen sind, treffen sie nicht, aber sie brüllen laut. Für größeres Publikum ist es aber die falsche Tageszeit, denn alle hetzen zur U-Bahn, um  was zu tun für den Fortschritt der Menschheit in ihren Großraum-Büros. Ich beschließe ohne Frühstück zur Bank zu fahren und vorher noch einen gesunden Schlaf zu machen für eine Stunde.

In der Uhlandstraße stelle ich dann fest, dass ich den Haustürschlüssel vergessen habe und nun muss ich im Hinterhof über den Zaun klettern. Ich falle natürlich runter, das passt zu dieser Nacht, muss dann das Knie sauber machen und irgendwas in die Wunde tun, bevor ich auf das Bett falle und gleich einschlafe, denn ich muss bald wieder raus, weil ich ja jetzt zur arbeitenden Bevölkerung gehöre, die immer pünktlich ist.

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