Eine europäische Biografie

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1975: Der Betriebsrat und der Lackierer

Die Fabrik in Berlin, in der ich 1975 arbeite, stellt Verkehrsschilder her aus Alu-Blech und Reflektionsfolie und Einbrennlack, feuergefährliches Zeug und deswegen gibt es jede Menge Sicherheitsvorschriften. Außerdem gibt es Stanzen und Biegebänke, Siebdruckrahmen, eine Lackiererei und 25 Mitarbeiter.

Der Betriebsrat hat in den letzten Jahren soviel Prozesse geführt gegen die Geschäftsleitung, dass die Gewerkschaft einen eigenen Sekretär hält für Prozesshilfe.

Alle Prozesse hat der Boss verloren.

Wie der Abteilungsleiter zeigt, wer wem was zu sagen hat.

Vorgeschichte 1: Am Vortag hat der Lackierer ein Thermometer in den Brennofen gelegt. Als es zerschmolzen war, tat es ihm leid, dann hat er es weggeworfen. Der Abteilungsleiter glaubt natürlich kein Wort von dieser Geschichte. Er glaubt, dass der Lackierer das Thermometer gestohlen hat. Er kennt doch seine Arbeiter. „Die klauen alle“, weiß er aus Erfahrung.

Vorgeschichte 2: In den Hallen verdrucken die Maschinen feuer­gefährliche Farben. Rauchen ist deswegen streng verboten. Das gilt auch für betrunkene Mitarbeiter. Trinken ist übrigens auch streng verboten. Das weiß auch der betrunkene Lackierer.

Ein kluger Chef wird daraus nie einen Zweikampf machen. In dieser Geschichte ist aber von unklugen Chefs die Rede.

Heute ist ein heißer Sommertag. Alle Maschinen laufen. Es ist sehr laut in der Halle, es ist langweilig, es ist noch lange hin bis Feierabend. Wie können wir den Tag herumbekom­men außer mit Arbeit?

Unser Lackierer sitzt mit baumelnden Beinen auf einem Tisch und schaut zu, wie die kleine dralle  Martina an der Stanze arbeitet. Mit ihrem kur­zen Röckchen legt sie im Rhythmus der Maschine Folien in die Maschine und die Stanze, rumms, saust runter und Martina schwingt die Hüfte und legt die nächste Folie ein und, rumms, macht die Maschine und Martina bückt sich, damit der Lackierer, so glaubt er, besser unter den Roch schauen kann und legt die nächste Folie ein. Das ist sicher eine gute Art, den Feierabend zu erreichen, nicht wahr?

Genüsslich zieht der Lackierer an seiner Zigarette. Er ist sehr be­trunken. Sein farbverschmierter Lackier-Kittel ist offen über der Brust. Er nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche. Nun kommt die Tragödie.

Der Abteilungsleiter kommt in die Halle. Sofort ist er im Bilde: der Lackierer hat hier nichts zu suchen. Die brennende Zigarette, die windschiefe Haltung. Der Mann ist betrunken, der Mann raucht, wo er nicht rauchen darf! Die Ordnung muss wieder hergestellt werden. „Herr Lackierer“, sagt der Abteilungsleiter, „Rauchen ist hier verboten!“

Ein guter Untergebener wird nun zusammen zucken, die Zigarette verstecken, sie wenigstens aus dem Mund nehmen, wird herumstottern, wird zei­gen, wie peinlich ihm das ist, wird murmeln: „Jawohl Herr Chef, soll nicht wieder vorkommen.“

Der Chef wird dann wissen, wer der Chef ist, wird Gnade walten lassen, weil er den Lackierer ja braucht.

Eigentlich ist der Lackierer ein guter Untergebener. Aber heute ist er, leider, betrunken und er hat die Regeln vergessen, die für Unter­gebene gelten. Er schaut weiter zu, wie die Kleine stanzt, pro Folie hebt sich einmal der Rock. Er raucht weiter, er ist weiter betrunken.

Nun wird aus dem Vorfall eine Prestige-Frage für den Abteilungsleiter. Hier hat nur er was zu sagen, oder nicht? fragt er sich.

Auch die anderen Beschäftigten in der Halle würden das mal gerne wissen. Sie stehen nun um die Beiden herum und möchten doch mal wissen, wer hier das Sagen hat.

In vollem Vertrauen auf die Selbsterhaltungstriebe seines Untergebenen, siegesgewiss, erhebt der Abteilungsleiter die Stimme, bis jeder sie hört: „Herr Lackierer!!“, kleine Pause.  „Verlassen Sie sofort die Halle!“

Angeekelt von der Störung, nimmt der Lackierer den Blick von der Stanze und richtet ihn gelassen, wenn auch glasig, auf seinen Vorgesetzten: „Iss wat?‘ fragt er.

Die Zuschauer kommen gespannt näher. Sollte dies die Art sein, wie wir ohne zu arbeiten den Feierabend erreichen? Ein Drama vor der Stanze?

Wir wollen doch mal sehen, wie nun der Abteilungsleiter das Gesicht wahrt. Der Chef versucht es zuerst mal mit einer Drohung.

„Herr Lackierer!!“ ruft er drohend: „Verlassen Sie die Halle! Sie haben hier nichts zu suchen!“  „Wat iss?“ fragt der Lackierer mit proletarischer Gelassenheit und nimmt einen Schluck.

Was soll der Abteilungsleiter nun tun? Natürlich wird er den Kerl ent­lassen, später. Aber es sind Sofortmaßnahmen nötig, hier und jetzt.

Wie bekommt man einen unverschämten Arbeiter dazu, die höhere Gehaltsgruppe zu respektieren?  Er versucht es über die, wie er glaubt, ungeschützte Flanke. Vielleicht hofft er, der Lackierer würde, wenn schon nicht am verbotenen Zigarettenqualm, dann doch wenigstens am schlech­ten Gewissen ersticken. „Das Thermometer haben Sie auch gestohlen!“ ruft er.

Doch das ist ein schwerer Fehler. Ein Arbeiter muss sich immer im Un­recht fühlen. Willst du Führungskraft sein, mach nie den Fehler, gerechten Zorn zu provozieren.

Der Lackierer ist sofort sehr zornig, richtig entrüstet ist er. Runter vom Tisch springt er und ruft: „Det nehm’se sofort zurück! Det ick ein Dieb sein soll“, ruft er sehr entrüstet. Ein ehrlicher Lackierer hat er es nicht nötig, sich Dieb nennen zu lassen. Das hat er bestimmt nicht nötig. Ist er ein Mensch oder ist er kein Mensch? fragt sich der Lackierer.

„Det nehm’se sofort zurück, det ick ein Dieb sein soll  Nehm’se det zurück? Det nimmste sofort zurück!“ ruft er bis ins Innerste entrüstet.

Der Abteilungsleiter versucht wieder sicheren Boden zu erreichen: die geltenden Vorschriften. „Hier ist Rauchen verboten! Das ist ein Kündigungsgrund! Verlassen Sie die Halle, Herr Lackierer!“

Die Zuschauer machen einen Kreis um die Streithähne. Das hier ist wirklich Action, ein echter Revierkampf: Leithirsch verteidigt Revier gegen Eindringling aus unter­ster Lohnstufe! Und der Lackierer bleibt weiter im Angriff. „Nimmste det zurück?!“ ruft er und geht einen Schritt auf den Verleumder zu. Er ist ganz offensichtlich schwer an der Ehre getroffen.

Ist die Würde des Menschen unantastbar oder ist sie das nicht? Ist ein Lackierer ein Mensch oder nicht? „Nimmste det zurück!“

Der Abteilungsleiter denkt nicht daran. Im Gegenteil: Ist hier Rauchen verboten!

„Det nimmste zurück, du schwule Sau!“ ruft der Lackierer. Schwul, das galt, warum auch immer, damals auch noch als Beleidigung.,

Nun steht Ehre gegen Ehre. „Was haben Sie gesagt?“ fragt der Abteilungsleiter. Er traut seinen Ohren nicht. „Nimm det zurück!“ ruft der Lackierer.

„Das ist eine Beleidigung!“ ruft nun der Abteilungsleiter.

Jeder weiß es nun: der Abteilungsleiter ist beleidigt.

„Sie sind ja besoffen!„ ruft der beleidigte Abteilungsleiter.

Er nimmt den Lackierer nicht ernst, das ist ein schwerer Fehler.

„Wenn de det nich zurücknimmst, denn hau ick dir wat ins Kreuze“, ruft der Lackierer.

Das ist Spitze! Wer von uns hätte das gedacht, als er heute Morgen die Stempel-Karte gedrückt hat. Vielleicht erleben wir noch ein echtes Duell. Der Lackierer ist stärker, aber der Chef ist schneller, weil nüchtern. Die Zuschauer wetten auf den Lackierer.

Der geht, etwas schwankend, aber sehr entschlossen zu einem Regal. Dort liegt ein Brecheisen, mit dem üblicher­weise Kisten aufgebrochen werden. Natürlich kann man damit auch Abteilungsleiter aufbrechen. Der erkennt das sofort.

Ganz zufällig geht er zu einer Tür, die in einen Neben­raum führt. Sie ist leicht zu verteidigen, hat aber den Nach­teil, dass es sonst keinen Ausgang aus dem Raum gibt. Das weiß auch der Lackierer. Er stellt sich vor die Tut, die Brechstange in der Faust, die Zigarette ist ihm runtergefallen. Er ruft: „Ick hau dir wat ins Kreuze!“

Der Abteilungsleiter versucht eine Ablenkung. Durch die Tür sehen alle, dass er auf die Uhr schaut. Sicherlich hat er einen wichtigen Termin. Er sorgt sich um die Sicherheit unserer Arbeitsplätze und hat Besseres zu tun, als sich mit Besoffenen zu streiten, soll das heißen.

„Komm raus, du Sau! „ruft der Lackierer. Er ist sehr überzeugend, wie er da steht vor der Tür, der  Bart gesträubt, der Kittel offen über der nackten Brust, die Brechstange in der Faust,  Empörung im Herzen, die Arbeiterklasse im Rücken und auch die Menschenrechte.

„Komm raus!“ ruft er. Der Abteilungsleiter denkt nicht daran. Ein Arbeitskollege hält die Spannung nicht mehr aus. „Mach dir nich unglücklich, Klaus!“, ruft er. Er hält den Lackierer am Arm fest. Als Klaus merkt, dass er festgehalten wird, ist er kaum noch zu halten. „Halt mir fest, sonst hau ick dem wat ins Kreuze!“ ruft er und zwei weitere Kollegen halten ihn fest. Er lässt sich, als Sieger, als Rächer der Ausgebeuteten, das Brecheisen aus der Hand nehmen.  Er hat diesem Kerl von Abteilungsleiter gezeigt, was Mitbestimmung ist. Vielleicht lässt auch bloß der Alkohol nach.

Laut schimpfend geht der Lackierer in die Lackiererei, wo das Rauchen besonders streng verboten ist, und raucht erstmal eine Zigarette.

Inzwischen hat der Abteilungsleiter das rettende Büro erreicht und er entlässt sofort den Lackierer, fristlos, auf der Stelle. Er will doch mal sehen, wer hier das Sagen hat, er oder so ein besoffener Kerl, der nicht mal halb soviel verdient.

Inzwischen weiß natürlich der ganze Betrieb Bescheid. Der Betriebsleiter kommt ins Büro, die Sachbearbeiter, der Betriebsrat wird gerufen. „Der fliegt!!“ ruft der Abteilungsleiter. Der Betriebsleiter stimmt ihm sofort zu.

Das macht den Abteilungsleiter misstrauisch, denn er möchte selber Betriebsleiter werden und deswegen ist er verfeindet mit dem Betriebsleiter. Warum stimmt er zu? Wo ist der Trick?

Trotzdem: „Der Kerl fliegt!“ ruft er. Alle anwesenden Untergebenen stimmen ihm zu.

Leider muss man vorher den Betriebsrat fragen. Es gibt bereits mehrere Arbeitnehmer im Betrieb, die der Abteilungsleiter im ersten Zorn entlassen hat und die vor Gericht recht bekommen haben. Bloß keine Formfehler mehr!

Der Betriebsrat bestätigt, wie sehr der Abteilungsleiter im Recht ist. Das geht nun wirklich auf keine Kuhhaut, sagt er, seinen Vorgesetzten eine schwule Sau zu nennen. „Wie kommet er denn da drauf?“ fragt der Betriebsrat. „Ja, wie kommt der denn da drauf?“ fragt auch der Betriebs­leiter. Steckt da irgendwas dahinter?

„Besoffen ist der Kerl“ sagt der Abteilungsleiter, voll wie’n Pisstopp“. Und geraucht hat der Kerl, wo er nicht darf. Alle versichern dem Abteilungsleiter wie sehr die Vorschriften auf seiner Seite sind.

Was ist denn nun mit dem Diebstahl?‘ fragt der Betriebsrat.

„Er das Thermometer geklaut!“ sagt der Abteilungsleiter. Ob es denn Beweise gibt dafür, fragt der Betriebsrat.

„Das ist doch klar!“ sagt der Abteilungsleiter. Nie und nimmer hat er das Thermometer zerschmolzen und wenn, dann bestimmt mit Absicht. Ja, der Abteilungsleiter kennt seine Untergebenen.

„Wie kommt der bloß auf schwule Sau?“ fragt der Betriebsleiter.

„Der fliegt fristlos!“ sagt der Abteilungsleiter. „Das wird einen Prozess geben“ sagt der Betriebsrat. „Vorgesetzter nennt Untergebenen Dieb, der nennt ihn schwule Sau. Wer weiß, wie der Richter das sieht?“

„Der fliegt!“   „Es bleibt immer was hängen“ sagt der Betriebsrat. „Sie wissen ja, wie die Leute sind.“ Das sieht der Abteilungsleiter ein. Er weiß wie die Leute sind.

Der Betriebsrat sagt: „Vor Gericht wird das alles öffentlich verlesen. Und Ihre Kunden werden das lesen und fragen: Wie kommt der bloß auf schwule Sau?“

Es dauert noch eine halbe Stunde. Dann sieht der Abteilungsleiter ein, dass er über den Dingen steht. „Natürlich sind Sie im Recht“ sagt der Betriebsleiter. „Das ist klar“, sagt der Betriebsrat. „Aber Sie wissen ja, wie die Leute sind!“

Der Abteilungsleiter weiß wie die Leute sind. Er ist selber so.

Im Betrieb stehen die Mitarbeiter zusammen und diskutieren. Es ist eine unordentliche Betriebsversammlung entstanden, die bis zum Feierabend anhält.

Nun haben wir den Tag gut rumgekriegt. Also, bis Morgen!

 

Nachgeschichte: Der Abteilungsleiter nimmt den Vorwurf des Diebstahls zurück, weil er nicht zu beweisen ist. Der Lackierer nimmt den Vorwurf der schwulen Sau zurück, weil er nicht zu beweisen ist. Der Lackierer bekommt eine strenge Abmahnung, weil er geraucht hat, wo er nicht durfte und weil er getrunken hatte, aber das bestreitet er. „Nur Bier“ sagt er. Es wird am Schwarzen Brett ein Aushang gemacht: „Rauchen ist ab sofort besonders streng verboten! Trinken auch. Wer das nicht einsieht, fliegt! Die Geschäftsleitung.“

Der Abteilungsleiter und der Lackierer sind seit jenem Tag immer besonders höflich zueinander. „Könnten Sie bitte meine Schilder zuerst lackieren?“ fragt der Abteilungsleiter.

„Mach ick,“ sagt der Lackierer.

Denn einer muss ja wohl das Sagen haben im Betrieb, nicht wahr!  Wir sind doch hier nicht bei den Chaoten, ist das klar?

1964: Moralische Geschichten – Karla fährt heiraten

Karla ist die weiblichste Frau, die ich kenne. Lang, schlaksig, wenig Brust, aber mit einem Lachen, so wild weiblich, dass mir flau wird im Magen.

Ich hätte gerne mit ihr geschlafen. Sie hätte wohl auch nichts dagegen gehabt, aber ich habe mich nicht getraut, sie zu fragen, ich wollte mich nicht blamieren
bei ihr. 
Und sie hat mich auch nicht verführt, so war sie nicht! Der Mann musste schon wollen bei ihr. So blieb ich ihr Freund. Sie erzählt mir ihre Geschichten mit den Männern. Weiterlesen

1965: Aschinger

Als es schon dämmert, fällt mir ein, dass ich noch irgendwas essen muss. Ich gehe also zu Aschinger am Zoo, wo es sehr voll ist von Typen, die alle noch keinen Grund gefunden haben, nach Hause zu gehen.

Es ist ein großer überdachter Imbiss, in einer der Baulücken, die von amerikanischen Bomben gemacht wurden. Es ist so gemütlich wie in einer Tief-Garage, aber die Schrippen sind umsonst, wenn man eine Erbsen-Suppe bestellt.

Ein Weltenbummler mit Rucksack am Nebentisch aus dem Wedding braucht noch zwei, drei Bier, bevor er in seinen Hauseingang geht zum Schlafen. Er wankt am Steh-Tisch hin und her und unterhält sich intensiv mit seinem leeren Portemonnaie. Seinen Haushalt hat er in zwei Plastik-Tüten unter den Tisch gelagert.

Zwei junge Mädchen sehen ziemlich zerrupft aus. Sie ziehen die Bilanz der Nacht. Die strähnige Blonde meint, es war ein Verlustgeschäft. Sie hat sich schwer geirrt, weil sie geglaubt hat, dass Vergewaltigung was mit Sex zu tun hat, sagt sie. Er hat mir nur das Kleid zerrissen. Auf der Party haben alle zugeschaut, wie so ein Zwei-Zentner-Mann ihr die Unterhose runtergefetzt hat, die Bluse, ratsch und sie hat laut geschrien, wie sich das gehört und der Kerl hat ihr auch den BH zerrissen, bevor der Gastgeber gerufen hat: „Geht nach nebenan und macht nicht so’n Lärm.“ Mehr war nicht.

„Schau dir das an, alles kaputt“, sagt die Strähnige, „was soll ich denn nun meinem Mann sagen?“ Die Freundin schlägt vor, zu ihr nach Hause zu gehen und ihre Kleider anzuziehen, um den Ehemann auszutricksen. „Der merkt sowieso nichts“, sagt sie, „der iss immer duhn“. Die Strähnige gibt noch eine Runde aus von dem Geld, das sie als Entschädigung gekriegt hat von dem Vergewaltiger.

Ein Paar aus Wanne-Eickel, an einem der Steh-Tische, hat sich die Großstadt ganz anders vorgestellt. Nun ist das Geld weg und sie sind noch nicht besoffen genug, um im Tiergarten unter den Büschen zu schlafen. Sie ist kurz vor den Tränen und legt ihren Kopf in seine Hand und beide sitzen da und denken an die große Liebe, während sie in die Erbsensuppe schauen, um so mehr zu erfahren von der Zukunft. Er streichelt leise ihr Haar.

Ein Paar, er im dunklen Anzug, sie im kleinen Schwarzen, Opern-Uniform, löffelt die Erbsen-Suppe schweigend. Ihnen graut wohl vor dem Heimgehen und dem gemeinsamen Bett. Die Frau muss schon einige Whisky getrunken haben in den letzten 10 Jahren, jede Flasche sieht man im Gesicht. Nun schwankt sie zwischen Ehemann und Fußboden hin und her, nur gehalten von seinem Griff an der Schulter. „Du musst was essen“, sagt er, „sonst kotzt du mir wieder den Wagen voll“, und sie isst die Erbsensuppe und erzählt dem Löffel von ihrem unglücklichen Leben in endlosem Gebrabbel. Sie fürchtet wohl, dass er sie bald austauschen wird durch ein jüngeres Modell mit sechs Gängen.

Ich gehe dann den Kudamm lang in Richtung Wohnung. Am Zuntz, dem Café mit der seligen Witwe, prügeln sich zwei, aber weil sie so besoffen sind, treffen sie nicht, aber sie brüllen laut. Für größeres Publikum ist es aber die falsche Tageszeit, denn alle hetzen zur U-Bahn, um  was zu tun für den Fortschritt der Menschheit in ihren Großraum-Büros. Ich beschließe ohne Frühstück zur Bank zu fahren und vorher noch einen gesunden Schlaf zu machen für eine Stunde.

In der Uhlandstraße stelle ich dann fest, dass ich den Haustürschlüssel vergessen habe und nun muss ich im Hinterhof über den Zaun klettern. Ich falle natürlich runter, das passt zu dieser Nacht, muss dann das Knie sauber machen und irgendwas in die Wunde tun, bevor ich auf das Bett falle und gleich einschlafe, denn ich muss bald wieder raus, weil ich ja jetzt zur arbeitenden Bevölkerung gehöre, die immer pünktlich ist.

1965: Kneipenzeit

Wie es sich gehört für eine richtige Säuferzeit muss ich eine lange Liste von Kneipen abarbeiten, bevor ich mich dann wieder in der Bank mit dem Brutto-Sozial-Produkt rumärgern muss. Es ist immer gut, die Sauftour anzufangen in den Kreuzberger Künstlerkneipen, um das kulturelle Niveau einzuschätzen. Sobald in Paris oder New York irgendeine neue Mal-Richtung auftaucht gibt es in Kreuzberg schon Imitatoren. Bei den meisten reicht es allerdings, darüber zu reden, ist auch weniger Arbeit.

Im „Leierkasten“

In Kreuzberg, an der Zossener Straße, ist der „Leierkasten“,  eine kleine Kneipe mit Bier- und Tabak-Geruch, eckigen Tischen und runden Kellnerinnen, alles sehr eng, auf Berührung angelegt, auf Geruch, eine Kneipe zum Kennenlernen eben.

In der ist immer Kunst, aber nach Mitternacht, wenn die Promille höher sind, wird sie zur Kreuzberger Kunst. Gerade singt ein Künstler „Bye, Bye Blackbird“. Er steht vor dem Fenster, vor einem Mikrofon, vor einem großen Glas Bier, er singt bis das Glas leer ist.
Dann wirft jemand eine Münze in die Jukebox und Roy Black erzählt, dass irgendjemand, den er duzt,  nicht allein ist,  singt er, hat er gehört, hofft er, aber niemand hört zu.

An allen fünf Tischen laufen Diskussionen in viel zu schneller Geschwindigkeit, erträglich, weil alle gleichzeitig recht haben, bevor der nächste Apfelkorn kommt. In Kreuzberg ist es nicht so wichtig, was gesagt wird, sondern nur, dass es laut ist.

Da erklärt ein Künstler, was auf seinen Bildern ist und was das bedeutet, und warum das ganze Elend dieser Welt auf einer Leinwand ist und dieser Galerist kann den Tiefsinn nicht erkennen, aber der ist ja ohnehin ein Ausbeuter und die Bilder sind ohnehin noch nicht fertig, weil er kein Geld hat für Farbe.
„Noch einen Apfelkorn für den Künstler!“ sagt der Galerist, denn der Künstler gehört hier zum Inventar und er hat in den letzten Jahren mehr Sprüche gemacht als Bilder, und er kann inzwischen auch Gemälde erklären, die er noch gar nicht gemalt hat.

Die schmale Kneipe ist rammelvoll und alle reden gleichzeitig und rauchen Rothändle. Die Kellnerin rationalisiert die Arbeit und bringt auf dem großen Tablett nur noch Apfelkorn und Bier, egal was bestellt wird. Ein dritter Künstler beschuldigt nun einen vierten Künstler, immer seine Ideen zu klauen, die er selber erst mühsam geklaut hat bei Schröder-Sonnenstern, der sehr berühmt ist. Er hat schon die nächsten 5 Bilder verkauft, die er noch malen will und der Käufer hat gesagt, was noch fehlt, das ist ein Skandal. Na, wie macht man einen Skandal?

Alle am Tisch finden die Klauerei schrecklich und der Klauer bestellt zur Herstellung des Rechtsfriedens eine Runde für den ganzen Tisch, worauf alle das Talent des Künstlers loben. Ein sechster Künstler vertritt hier die Kriminellen-Gewerkschaft der 1920er Jahre, wie man erkennen kann an der speckigen Lederjacke, den großen falschen Ringen an den Fingern und einen Dschingis-Khan-Bart. Er sieht wirklich aus wie ein Künstler, von Dahlem aus gesehen. Er bestellt auch eine Tisch-Runde „damit du nicht wieder anfängst zu singen“, sagt er zum ersten Künstler. Der zieht nun den Streit ins Geistige. Er gehört zur Neuen-Picasso-Schule und er erklärt, warum er so wenig gemalt hat. „Schuld daran ist Kreuzberg“, sagt er „weil es dort einfach immer weniger Frauen gibt, die ihre Nase hinten am Kopf haben“. Die Künstler kennen die Geschichte schon und einer bestellt noch eine Lage Apfelkorn, „damit du nicht wieder anfängst zu reden“.

Die Kellnerin quetscht sich durch die rumsitzenden Künstler und alle am Tisch nehmen Apfelkorn mit Bier vom Tablett und so kann eine Ausweitung des Streits verhindert
werden. Der ist auch das Geschäfts-Modell von zwei weiteren Künstlern, die sind aber schon ziemlich besoffen und singen können sie auch nicht, aber Gläser umkippen.

Am Eck-Tisch, neben der Musik-Box, sitzt eine schwarzhaarige Blondine  mit einer Bluse im Tiger-Muster und ihr Typ erklärt ihr gerade die vergangene Vietnam-Politik der Amerikaner. „Wenn die Amis Atomwaffen genommen hätten, dann hätten’se den Krieg gewonnen“, sagt er und die Frau macht den dritten Knopf an der Bluse auf, bereit für Friedensverhandlungen. Sie hat einen grünen BH und einen Schlitz im Rock, der bis zum Slip reicht, auch getigert. Die Frau schaut sich um, ob da nicht doch irgendein Vietnam-Kämpfer rumsitzt, der sie vielleicht belästigen könnte. Aber ringsum sitzen nur Kreuzberger, die reden, Apfelkorn bestellen und reden und alle sind Wehrdienst-Verweigerer. Sie
macht die Bluse wieder zu. Für heute ist Geschäftsschluss. Bevor nun ein Künstler der Neuen-Kreuzberger-Traum-Schule anfängt zureden gehe ich lieber zu Aschinger, noch eine Erbsensuppe essen und dann nach Hause.

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