Wie es sich gehört für eine richtige Säuferzeit muss ich eine lange Liste von Kneipen abarbeiten, bevor ich mich dann wieder in der Bank mit dem Brutto-Sozial-Produkt rumärgern muss. Es ist immer gut, die Sauftour anzufangen in den Kreuzberger Künstlerkneipen, um das kulturelle Niveau einzuschätzen. Sobald in Paris oder New York irgendeine neue Mal-Richtung auftaucht gibt es in Kreuzberg schon Imitatoren. Bei den meisten reicht es allerdings, darüber zu reden, ist auch weniger Arbeit.

Im „Leierkasten“

In Kreuzberg, an der Zossener Straße, ist der „Leierkasten“,  eine kleine Kneipe mit Bier- und Tabak-Geruch, eckigen Tischen und runden Kellnerinnen, alles sehr eng, auf Berührung angelegt, auf Geruch, eine Kneipe zum Kennenlernen eben.

In der ist immer Kunst, aber nach Mitternacht, wenn die Promille höher sind, wird sie zur Kreuzberger Kunst. Gerade singt ein Künstler „Bye, Bye Blackbird“. Er steht vor dem Fenster, vor einem Mikrofon, vor einem großen Glas Bier, er singt bis das Glas leer ist.
Dann wirft jemand eine Münze in die Jukebox und Roy Black erzählt, dass irgendjemand, den er duzt,  nicht allein ist,  singt er, hat er gehört, hofft er, aber niemand hört zu.

An allen fünf Tischen laufen Diskussionen in viel zu schneller Geschwindigkeit, erträglich, weil alle gleichzeitig recht haben, bevor der nächste Apfelkorn kommt. In Kreuzberg ist es nicht so wichtig, was gesagt wird, sondern nur, dass es laut ist.

Da erklärt ein Künstler, was auf seinen Bildern ist und was das bedeutet, und warum das ganze Elend dieser Welt auf einer Leinwand ist und dieser Galerist kann den Tiefsinn nicht erkennen, aber der ist ja ohnehin ein Ausbeuter und die Bilder sind ohnehin noch nicht fertig, weil er kein Geld hat für Farbe.
„Noch einen Apfelkorn für den Künstler!“ sagt der Galerist, denn der Künstler gehört hier zum Inventar und er hat in den letzten Jahren mehr Sprüche gemacht als Bilder, und er kann inzwischen auch Gemälde erklären, die er noch gar nicht gemalt hat.

Die schmale Kneipe ist rammelvoll und alle reden gleichzeitig und rauchen Rothändle. Die Kellnerin rationalisiert die Arbeit und bringt auf dem großen Tablett nur noch Apfelkorn und Bier, egal was bestellt wird. Ein dritter Künstler beschuldigt nun einen vierten Künstler, immer seine Ideen zu klauen, die er selber erst mühsam geklaut hat bei Schröder-Sonnenstern, der sehr berühmt ist. Er hat schon die nächsten 5 Bilder verkauft, die er noch malen will und der Käufer hat gesagt, was noch fehlt, das ist ein Skandal. Na, wie macht man einen Skandal?

Alle am Tisch finden die Klauerei schrecklich und der Klauer bestellt zur Herstellung des Rechtsfriedens eine Runde für den ganzen Tisch, worauf alle das Talent des Künstlers loben. Ein sechster Künstler vertritt hier die Kriminellen-Gewerkschaft der 1920er Jahre, wie man erkennen kann an der speckigen Lederjacke, den großen falschen Ringen an den Fingern und einen Dschingis-Khan-Bart. Er sieht wirklich aus wie ein Künstler, von Dahlem aus gesehen. Er bestellt auch eine Tisch-Runde „damit du nicht wieder anfängst zu singen“, sagt er zum ersten Künstler. Der zieht nun den Streit ins Geistige. Er gehört zur Neuen-Picasso-Schule und er erklärt, warum er so wenig gemalt hat. „Schuld daran ist Kreuzberg“, sagt er „weil es dort einfach immer weniger Frauen gibt, die ihre Nase hinten am Kopf haben“. Die Künstler kennen die Geschichte schon und einer bestellt noch eine Lage Apfelkorn, „damit du nicht wieder anfängst zu reden“.

Die Kellnerin quetscht sich durch die rumsitzenden Künstler und alle am Tisch nehmen Apfelkorn mit Bier vom Tablett und so kann eine Ausweitung des Streits verhindert
werden. Der ist auch das Geschäfts-Modell von zwei weiteren Künstlern, die sind aber schon ziemlich besoffen und singen können sie auch nicht, aber Gläser umkippen.

Am Eck-Tisch, neben der Musik-Box, sitzt eine schwarzhaarige Blondine  mit einer Bluse im Tiger-Muster und ihr Typ erklärt ihr gerade die vergangene Vietnam-Politik der Amerikaner. „Wenn die Amis Atomwaffen genommen hätten, dann hätten’se den Krieg gewonnen“, sagt er und die Frau macht den dritten Knopf an der Bluse auf, bereit für Friedensverhandlungen. Sie hat einen grünen BH und einen Schlitz im Rock, der bis zum Slip reicht, auch getigert. Die Frau schaut sich um, ob da nicht doch irgendein Vietnam-Kämpfer rumsitzt, der sie vielleicht belästigen könnte. Aber ringsum sitzen nur Kreuzberger, die reden, Apfelkorn bestellen und reden und alle sind Wehrdienst-Verweigerer. Sie
macht die Bluse wieder zu. Für heute ist Geschäftsschluss. Bevor nun ein Künstler der Neuen-Kreuzberger-Traum-Schule anfängt zureden gehe ich lieber zu Aschinger, noch eine Erbsensuppe essen und dann nach Hause.