Paul Glasers Cousin Edmund hat 2011 aus dem Leben seiner Familie in den vierziger und fünfziger Jahren in der Sowjetunion berichtet. Hier sind seine Erinnerungen:
Ich bin in Romansdorf geboren, 1938. In Wolhynien, wie überall in der Sowjetunion liefen die Stalinschen Säuberungen. Einige Millionen wurden umgebracht, weil sie gegen die Sowjetmacht waren oder zur Abschreckung. Einige Onkel wurden auch nachts abgeholt von der Geheimpolizei, der NKWD und in an einen Graben bei Shitomir geführt und mit Genickschuss getötet. Auch mein Vater, der Edmund hieß wie ich. Ich war damals drei Jahre alt.
Allein 38.000 Deutsche kamen auf diese Art um, dazu auch andere, Ukrainer, Russen.
Ich komme aus der Familie Steinke, die in Romansdorf seit langem wohnte und, wie bei den Deutschen dort üblich, kreuz und quer heiratete, nie einen Ukrainer, nie einen Russen.
Meine Tante Emilie hatte Adolf Glaser geheiratet.
Als die Deutschen die Sowjetunion angriffen, im Sommer 1941, war unsere Familie gerade zur Arbeit eingeteilt im Donbas, dem ukrainischen Kohlenpott. Die deutschen Truppen rückten schnell vor, die Familie Glaser und alle anderen in Wolhynien, wurden befreit, wie sie es nannten. Zum Donbas, weiter östlich, kamen sie erst mal nicht. Sie wurden alle zwangsdeportiert nach Sibirien. Wir kamen in den Norden von Kasachstan, in ein Steppengebiet. Kein Wald, keine Flüsse, endlose Weite von schlechtem Boden.
Meine Mutter lebte mit mir und einer anderen großen Familie, insgesamt 5 Personen, in einer Erdhütte. Das waren Gruben im Boden, die oben ein Stück rausschauten, so einen halben Meter. Da waren die Fenster und der Schornstein. Wir hatten, alle zusammen, 2 Zimmer, Betten in Etagen.
In einem Zimmer war ein großer russischer Ofen, auf dem man schlafen konnte. Wir heizten ihn mit Stroh, Holz gab es nicht.
Auch keine Toilette, wir gingen draußen auf einen Donnerbalken, der über einer Grube lag. Zu Essen gab es auch sehr wenig. Die Frauen mussten auf einer Kolchose arbeiten, erhielten aber kein Geld, sondern Lebensmittel, Weizen oder Sonnenblumen, aus denen wir Öl machten. Alle sammelten im Sommer Beeren, Pilze und was wir sonst fanden. Wer keine Vorräte hatte, musste im Winter verhungern.
Die Kinder liefen im Sommer alle nackt herum, barfuß. Meine Mutter hatte nur etwas Wolle, aus der sie eine Hose strickte für mich. Aber das reichte nicht im Winter. Da mussten alle Kinder in den Erdhütten bleiben, weil sie keine Kleider und keine Schuhe hatten.
Wir waren Zwangsarbeiter und die Frauen mussten sich jede Woche einmal auf der Kommandantur melden. Sie verwaltete ein Gefängnis ohne Gitter und Mauern. Wohin hätten wir auch flüchten sollen.
Erst 1949, also nach 8 Jahren, wurde die Zwangsarbeit etwas gelockert. Wir zogen nach Asbest im südlichen Ural. Es war ein Ort, um eine große tiefe Grube gebaut, aus in der man Erde holte, die Asbest-Fasern enthielt. Wir wussten damals nicht, dass Asbest gefährlich war. Im Sommer war die Luft voll Asbest-Staub, bei der Arbeit konnten wir manchmal nur einen Meter weit sehen, soviel Staub war da.
Wir hatten hier Emilie Glaser, geborene Janke getroffen. Sie ist die Großmutter von Paul Glaser. Sie hatte es 1945 bis nach Deutschland geschafft, ist dann aber von den Sowjets zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Sie galt als sowjetische Staatsbürgerin, die ihr Land verraten hatte, indem sie nach Deutschland ging.
Oma war schon sehr alt, geboren 1877, konnte nicht mehr arbeiten, aber sie passte auf die Kinder auf, während die Frauen in der Grube waren.
In Asbest durfte ich auch zum ersten Mal in eine Schule gehen, ich war damals 12 Jahre alt.
Es war eine russische Schule, alle Klassen in einem Raum. Danach machte ich eine Lehre als Schlosser und durfte bald einen Seil-Bagger führen beim Erd-Abbau. Er war aus Deutschland, die Russen hatten ihn abtransportiert, wie uns.
Im Jahre 1956 gab es große Veränderungen. Wir konnten Russen werden, normale Staatsbürger. Bis dahin waren wir staatenlose Zwangsarbeiter. Heute weiß ich, dass dies an Adenauer lag, der nach Moskau gereist war wegen der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter.
Weil die Frauen bei der Arbeit in der Grube immer krank waren, wollten wir zurück in eine wärmere Gegend. Wir gingen zurück nach Kasachstan, aber weiter nach Süden, in die Gegend von Taschkent. Das ist schon südliches Wüsten-Klima. Die Frauen arbeiteten auf einer Kolchose, die Baumwolle anbaute.
Ich durfte dann auf eine Ingenieurschule gehen und hatte bald eine gute Arbeit auf der Kolchose, war wohl auch schon ein wichtiger Mensch für Sowjet-Verhältnisse. Denn 1970 durfte ich nach Deutschland reisen zu Besuch. Meine Mutter hat mir zum Abschied gesagt: Wenn Du wieder zurückkommst, dann bist du wirklich dumm.
So bin ich in Deutschland geblieben, bei Verwandten in Westfalen zuerst, habe in Holzwickede gelebt. Ich bekam ein Stipendium und habe dann studiert an einer Fachhochschule und wurde Ingenieur, habe die Baustellen überprüft.
Ich hatte inzwischen eine Deutsch-Russin geheiratet und bin nach Freiburg gezogen.
Wenn ich so zurück blicke war es ein schweres Leben. Dreimal musste ich von Null neu anfangen, die Familie ist in alle Winde verstreut. Erst 1991, nach dem Ende der Sowjetunion, durften die letzten Verwandten aus Sibirien nach Deutschland.
Aber ich habe ja noch Glück gehabt. So mancher aus den Familien der Steinkes und Glasers ist getötet worden.
Liegt im südlichen Ural nicht weit von Jekaterinenburg. Der Ort hat heute 70 000 Einwohner und ist um eine Asbest-Grube herum gebaut. Eine offene Tagebau-Grube. Aus der abgebauten Erde wurden die Asbest-Fasern gewonnen. 1949 waren dort zwei Kriegsgefangenen-Lager: Nr 84 und Nr 314. Der Ort war also Teil des sowjetischen Gulag.
Es gab auch ein „Besserungs-Arbeitslager“ Baschenowo ITL, in dem bis zu 7700 Gefangen waren, die Steinkes auch.
Auf dem Friedhof liegen mehr als 15.000 Kriegsgefangene in Massengräbern. Die Grube wird heute von einer Aktiengesellschaft betrieben.
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