Eine europäische Biografie

1975: Der Betriebsrat und der Lackierer

Die Fabrik in Berlin, in der ich 1975 arbeite, stellt Verkehrsschilder her aus Alu-Blech und Reflektionsfolie und Einbrennlack, feuergefährliches Zeug und deswegen gibt es jede Menge Sicherheitsvorschriften. Außerdem gibt es Stanzen und Biegebänke, Siebdruckrahmen, eine Lackiererei und 25 Mitarbeiter.

Der Betriebsrat hat in den letzten Jahren soviel Prozesse geführt gegen die Geschäftsleitung, dass die Gewerkschaft einen eigenen Sekretär hält für Prozesshilfe.

Alle Prozesse hat der Boss verloren.

Wie der Abteilungsleiter zeigt, wer wem was zu sagen hat.

Vorgeschichte 1: Am Vortag hat der Lackierer ein Thermometer in den Brennofen gelegt. Als es zerschmolzen war, tat es ihm leid, dann hat er es weggeworfen. Der Abteilungsleiter glaubt natürlich kein Wort von dieser Geschichte. Er glaubt, dass der Lackierer das Thermometer gestohlen hat. Er kennt doch seine Arbeiter. „Die klauen alle“, weiß er aus Erfahrung.

Vorgeschichte 2: In den Hallen verdrucken die Maschinen feuer­gefährliche Farben. Rauchen ist deswegen streng verboten. Das gilt auch für betrunkene Mitarbeiter. Trinken ist übrigens auch streng verboten. Das weiß auch der betrunkene Lackierer.

Ein kluger Chef wird daraus nie einen Zweikampf machen. In dieser Geschichte ist aber von unklugen Chefs die Rede.

Heute ist ein heißer Sommertag. Alle Maschinen laufen. Es ist sehr laut in der Halle, es ist langweilig, es ist noch lange hin bis Feierabend. Wie können wir den Tag herumbekom­men außer mit Arbeit?

Unser Lackierer sitzt mit baumelnden Beinen auf einem Tisch und schaut zu, wie die kleine dralle  Martina an der Stanze arbeitet. Mit ihrem kur­zen Röckchen legt sie im Rhythmus der Maschine Folien in die Maschine und die Stanze, rumms, saust runter und Martina schwingt die Hüfte und legt die nächste Folie ein und, rumms, macht die Maschine und Martina bückt sich, damit der Lackierer, so glaubt er, besser unter den Roch schauen kann und legt die nächste Folie ein. Das ist sicher eine gute Art, den Feierabend zu erreichen, nicht wahr?

Genüsslich zieht der Lackierer an seiner Zigarette. Er ist sehr be­trunken. Sein farbverschmierter Lackier-Kittel ist offen über der Brust. Er nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche. Nun kommt die Tragödie.

Der Abteilungsleiter kommt in die Halle. Sofort ist er im Bilde: der Lackierer hat hier nichts zu suchen. Die brennende Zigarette, die windschiefe Haltung. Der Mann ist betrunken, der Mann raucht, wo er nicht rauchen darf! Die Ordnung muss wieder hergestellt werden. „Herr Lackierer“, sagt der Abteilungsleiter, „Rauchen ist hier verboten!“

Ein guter Untergebener wird nun zusammen zucken, die Zigarette verstecken, sie wenigstens aus dem Mund nehmen, wird herumstottern, wird zei­gen, wie peinlich ihm das ist, wird murmeln: „Jawohl Herr Chef, soll nicht wieder vorkommen.“

Der Chef wird dann wissen, wer der Chef ist, wird Gnade walten lassen, weil er den Lackierer ja braucht.

Eigentlich ist der Lackierer ein guter Untergebener. Aber heute ist er, leider, betrunken und er hat die Regeln vergessen, die für Unter­gebene gelten. Er schaut weiter zu, wie die Kleine stanzt, pro Folie hebt sich einmal der Rock. Er raucht weiter, er ist weiter betrunken.

Nun wird aus dem Vorfall eine Prestige-Frage für den Abteilungsleiter. Hier hat nur er was zu sagen, oder nicht? fragt er sich.

Auch die anderen Beschäftigten in der Halle würden das mal gerne wissen. Sie stehen nun um die Beiden herum und möchten doch mal wissen, wer hier das Sagen hat.

In vollem Vertrauen auf die Selbsterhaltungstriebe seines Untergebenen, siegesgewiss, erhebt der Abteilungsleiter die Stimme, bis jeder sie hört: „Herr Lackierer!!“, kleine Pause.  „Verlassen Sie sofort die Halle!“

Angeekelt von der Störung, nimmt der Lackierer den Blick von der Stanze und richtet ihn gelassen, wenn auch glasig, auf seinen Vorgesetzten: „Iss wat?‘ fragt er.

Die Zuschauer kommen gespannt näher. Sollte dies die Art sein, wie wir ohne zu arbeiten den Feierabend erreichen? Ein Drama vor der Stanze?

Wir wollen doch mal sehen, wie nun der Abteilungsleiter das Gesicht wahrt. Der Chef versucht es zuerst mal mit einer Drohung.

„Herr Lackierer!!“ ruft er drohend: „Verlassen Sie die Halle! Sie haben hier nichts zu suchen!“  „Wat iss?“ fragt der Lackierer mit proletarischer Gelassenheit und nimmt einen Schluck.

Was soll der Abteilungsleiter nun tun? Natürlich wird er den Kerl ent­lassen, später. Aber es sind Sofortmaßnahmen nötig, hier und jetzt.

Wie bekommt man einen unverschämten Arbeiter dazu, die höhere Gehaltsgruppe zu respektieren?  Er versucht es über die, wie er glaubt, ungeschützte Flanke. Vielleicht hofft er, der Lackierer würde, wenn schon nicht am verbotenen Zigarettenqualm, dann doch wenigstens am schlech­ten Gewissen ersticken. „Das Thermometer haben Sie auch gestohlen!“ ruft er.

Doch das ist ein schwerer Fehler. Ein Arbeiter muss sich immer im Un­recht fühlen. Willst du Führungskraft sein, mach nie den Fehler, gerechten Zorn zu provozieren.

Der Lackierer ist sofort sehr zornig, richtig entrüstet ist er. Runter vom Tisch springt er und ruft: „Det nehm’se sofort zurück! Det ick ein Dieb sein soll“, ruft er sehr entrüstet. Ein ehrlicher Lackierer hat er es nicht nötig, sich Dieb nennen zu lassen. Das hat er bestimmt nicht nötig. Ist er ein Mensch oder ist er kein Mensch? fragt sich der Lackierer.

„Det nehm’se sofort zurück, det ick ein Dieb sein soll  Nehm’se det zurück? Det nimmste sofort zurück!“ ruft er bis ins Innerste entrüstet.

Der Abteilungsleiter versucht wieder sicheren Boden zu erreichen: die geltenden Vorschriften. „Hier ist Rauchen verboten! Das ist ein Kündigungsgrund! Verlassen Sie die Halle, Herr Lackierer!“

Die Zuschauer machen einen Kreis um die Streithähne. Das hier ist wirklich Action, ein echter Revierkampf: Leithirsch verteidigt Revier gegen Eindringling aus unter­ster Lohnstufe! Und der Lackierer bleibt weiter im Angriff. „Nimmste det zurück?!“ ruft er und geht einen Schritt auf den Verleumder zu. Er ist ganz offensichtlich schwer an der Ehre getroffen.

Ist die Würde des Menschen unantastbar oder ist sie das nicht? Ist ein Lackierer ein Mensch oder nicht? „Nimmste det zurück!“

Der Abteilungsleiter denkt nicht daran. Im Gegenteil: Ist hier Rauchen verboten!

„Det nimmste zurück, du schwule Sau!“ ruft der Lackierer. Schwul, das galt, warum auch immer, damals auch noch als Beleidigung.,

Nun steht Ehre gegen Ehre. „Was haben Sie gesagt?“ fragt der Abteilungsleiter. Er traut seinen Ohren nicht. „Nimm det zurück!“ ruft der Lackierer.

„Das ist eine Beleidigung!“ ruft nun der Abteilungsleiter.

Jeder weiß es nun: der Abteilungsleiter ist beleidigt.

„Sie sind ja besoffen!„ ruft der beleidigte Abteilungsleiter.

Er nimmt den Lackierer nicht ernst, das ist ein schwerer Fehler.

„Wenn de det nich zurücknimmst, denn hau ick dir wat ins Kreuze“, ruft der Lackierer.

Das ist Spitze! Wer von uns hätte das gedacht, als er heute Morgen die Stempel-Karte gedrückt hat. Vielleicht erleben wir noch ein echtes Duell. Der Lackierer ist stärker, aber der Chef ist schneller, weil nüchtern. Die Zuschauer wetten auf den Lackierer.

Der geht, etwas schwankend, aber sehr entschlossen zu einem Regal. Dort liegt ein Brecheisen, mit dem üblicher­weise Kisten aufgebrochen werden. Natürlich kann man damit auch Abteilungsleiter aufbrechen. Der erkennt das sofort.

Ganz zufällig geht er zu einer Tür, die in einen Neben­raum führt. Sie ist leicht zu verteidigen, hat aber den Nach­teil, dass es sonst keinen Ausgang aus dem Raum gibt. Das weiß auch der Lackierer. Er stellt sich vor die Tut, die Brechstange in der Faust, die Zigarette ist ihm runtergefallen. Er ruft: „Ick hau dir wat ins Kreuze!“

Der Abteilungsleiter versucht eine Ablenkung. Durch die Tür sehen alle, dass er auf die Uhr schaut. Sicherlich hat er einen wichtigen Termin. Er sorgt sich um die Sicherheit unserer Arbeitsplätze und hat Besseres zu tun, als sich mit Besoffenen zu streiten, soll das heißen.

„Komm raus, du Sau! „ruft der Lackierer. Er ist sehr überzeugend, wie er da steht vor der Tür, der  Bart gesträubt, der Kittel offen über der nackten Brust, die Brechstange in der Faust,  Empörung im Herzen, die Arbeiterklasse im Rücken und auch die Menschenrechte.

„Komm raus!“ ruft er. Der Abteilungsleiter denkt nicht daran. Ein Arbeitskollege hält die Spannung nicht mehr aus. „Mach dir nich unglücklich, Klaus!“, ruft er. Er hält den Lackierer am Arm fest. Als Klaus merkt, dass er festgehalten wird, ist er kaum noch zu halten. „Halt mir fest, sonst hau ick dem wat ins Kreuze!“ ruft er und zwei weitere Kollegen halten ihn fest. Er lässt sich, als Sieger, als Rächer der Ausgebeuteten, das Brecheisen aus der Hand nehmen.  Er hat diesem Kerl von Abteilungsleiter gezeigt, was Mitbestimmung ist. Vielleicht lässt auch bloß der Alkohol nach.

Laut schimpfend geht der Lackierer in die Lackiererei, wo das Rauchen besonders streng verboten ist, und raucht erstmal eine Zigarette.

Inzwischen hat der Abteilungsleiter das rettende Büro erreicht und er entlässt sofort den Lackierer, fristlos, auf der Stelle. Er will doch mal sehen, wer hier das Sagen hat, er oder so ein besoffener Kerl, der nicht mal halb soviel verdient.

Inzwischen weiß natürlich der ganze Betrieb Bescheid. Der Betriebsleiter kommt ins Büro, die Sachbearbeiter, der Betriebsrat wird gerufen. „Der fliegt!!“ ruft der Abteilungsleiter. Der Betriebsleiter stimmt ihm sofort zu.

Das macht den Abteilungsleiter misstrauisch, denn er möchte selber Betriebsleiter werden und deswegen ist er verfeindet mit dem Betriebsleiter. Warum stimmt er zu? Wo ist der Trick?

Trotzdem: „Der Kerl fliegt!“ ruft er. Alle anwesenden Untergebenen stimmen ihm zu.

Leider muss man vorher den Betriebsrat fragen. Es gibt bereits mehrere Arbeitnehmer im Betrieb, die der Abteilungsleiter im ersten Zorn entlassen hat und die vor Gericht recht bekommen haben. Bloß keine Formfehler mehr!

Der Betriebsrat bestätigt, wie sehr der Abteilungsleiter im Recht ist. Das geht nun wirklich auf keine Kuhhaut, sagt er, seinen Vorgesetzten eine schwule Sau zu nennen. „Wie kommet er denn da drauf?“ fragt der Betriebsrat. „Ja, wie kommt der denn da drauf?“ fragt auch der Betriebs­leiter. Steckt da irgendwas dahinter?

„Besoffen ist der Kerl“ sagt der Abteilungsleiter, voll wie’n Pisstopp“. Und geraucht hat der Kerl, wo er nicht darf. Alle versichern dem Abteilungsleiter wie sehr die Vorschriften auf seiner Seite sind.

Was ist denn nun mit dem Diebstahl?‘ fragt der Betriebsrat.

„Er das Thermometer geklaut!“ sagt der Abteilungsleiter. Ob es denn Beweise gibt dafür, fragt der Betriebsrat.

„Das ist doch klar!“ sagt der Abteilungsleiter. Nie und nimmer hat er das Thermometer zerschmolzen und wenn, dann bestimmt mit Absicht. Ja, der Abteilungsleiter kennt seine Untergebenen.

„Wie kommt der bloß auf schwule Sau?“ fragt der Betriebsleiter.

„Der fliegt fristlos!“ sagt der Abteilungsleiter. „Das wird einen Prozess geben“ sagt der Betriebsrat. „Vorgesetzter nennt Untergebenen Dieb, der nennt ihn schwule Sau. Wer weiß, wie der Richter das sieht?“

„Der fliegt!“   „Es bleibt immer was hängen“ sagt der Betriebsrat. „Sie wissen ja, wie die Leute sind.“ Das sieht der Abteilungsleiter ein. Er weiß wie die Leute sind.

Der Betriebsrat sagt: „Vor Gericht wird das alles öffentlich verlesen. Und Ihre Kunden werden das lesen und fragen: Wie kommt der bloß auf schwule Sau?“

Es dauert noch eine halbe Stunde. Dann sieht der Abteilungsleiter ein, dass er über den Dingen steht. „Natürlich sind Sie im Recht“ sagt der Betriebsleiter. „Das ist klar“, sagt der Betriebsrat. „Aber Sie wissen ja, wie die Leute sind!“

Der Abteilungsleiter weiß wie die Leute sind. Er ist selber so.

Im Betrieb stehen die Mitarbeiter zusammen und diskutieren. Es ist eine unordentliche Betriebsversammlung entstanden, die bis zum Feierabend anhält.

Nun haben wir den Tag gut rumgekriegt. Also, bis Morgen!

 

Nachgeschichte: Der Abteilungsleiter nimmt den Vorwurf des Diebstahls zurück, weil er nicht zu beweisen ist. Der Lackierer nimmt den Vorwurf der schwulen Sau zurück, weil er nicht zu beweisen ist. Der Lackierer bekommt eine strenge Abmahnung, weil er geraucht hat, wo er nicht durfte und weil er getrunken hatte, aber das bestreitet er. „Nur Bier“ sagt er. Es wird am Schwarzen Brett ein Aushang gemacht: „Rauchen ist ab sofort besonders streng verboten! Trinken auch. Wer das nicht einsieht, fliegt! Die Geschäftsleitung.“

Der Abteilungsleiter und der Lackierer sind seit jenem Tag immer besonders höflich zueinander. „Könnten Sie bitte meine Schilder zuerst lackieren?“ fragt der Abteilungsleiter.

„Mach ick,“ sagt der Lackierer.

Denn einer muss ja wohl das Sagen haben im Betrieb, nicht wahr!  Wir sind doch hier nicht bei den Chaoten, ist das klar?

1 Kommentar

  1. Günter Zint

    Die siebziger Jahre hab ich in einer Hippie-Kommune verbracht. 1971 habe ich meine Anteile am St.Pauli Verlag und den St. Pauli Nachrichten für einen 6 stelligen Betrag an meinen Kompgnon Helmut Rosenberg verkauft. Die Zeitung wurde durch die Sex-Anzeigen immer uninteressanter. Ich wollte ja eine Gegenbildzeitung mit Linksdrall, aber meinem Partner war das Geldverdienen wichtiger. Von der Kohle habe ich 10 Jahre lang einen Bauernhof in Nordholz gepachtet ud wir haben mit einem Dutzend Freundinnen die neuen sexuellen Freiheiten geübt. War eine tolle Zeit, die aber dann mit der Geburt von Jennifer 1979 zu Ende ging. Ausserdem kam dann die Friedensbewegung und die Anti-Atom Bewegung und ich landete mit dem Buch „Gegen den Atomstaat“ einen Bestseller. 30 Auflagen mit über 1 Millionen Exemplaern beim 2001-Verlag. Auch die Bücher mit Wallraff liefen so gut dass ich mich wieder ganz meiner Fotoagentur PANFOTO widmen konnte. Du hast ja in den Gründerjahren tüchtig mitgeholfen mit den Musikerfotos Umsatz zu machen. Noch heute hab ich ein schlechtes Gewissen dass Du im Labor uter der Trockenmaschine schlafen musstes.

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