Am Sterbebett der Mutter erzählt der Vater 1962 erstmals über die Zeit der Verfolgung von 1938. Festgehalten hat Paul Glaser den Bericht des Vaters in einem Tagebucheintrag vom 12.3.1962.

Alle Kulacken, Groß-Bauern, sollten nach Sibirien deportiert oder erschossen werden. Das war Stalins Befehl. Mein Vater wurde als Kulack gesucht. Er hatte Land, war Deutscher. Das hieß 25 Jahre Sibirien oder Tod. Das große Töten begann. Was tun?

Was ein schlauer Bauer eben tut. Er lädt den Bürgermeister ein zu Wodka, zu viel Wodka. Und als der Ukrainer besoffen genug war, hat er diese Scheine geholt und unterschrieben, abgestempelt. Es waren Propuste. Sie sagten: der Besitzer ist kein Kulack, kein Volksfeind.

Mein Vater füllte später die Blankoscheine aus. Gab auch Bekannten welche.

Aber wie das so ist mit den Nachbarn. Einer war Spitzel des NKWD, des Geheimdienstes, selbst ein armes Schwein. Sie hatten ihm 25 Jahre gegeben für irgendwas und für jeden, den er verriet bekam er 5 Jahre weniger und 500 Rubel. Der Spitzel hieß Szarow. Vater wurde festgenommen.

Die deutschen Siedler hielten zusammen im Dorf. Sie gingen zum Spitzel: wenn Du nicht alles widerrufst, stirbst du. Er widerrief, nachdem selbst der Chef des örtlichen NKWD ihm zuredete.

Der schrieb neue Dokumente, dass Vater das Dorf verlassen hatte. Das hatte einiges gekostet: die Kleider, die weichen Schaft-Stiefel, alles Bargeld, Möbel und. durchsoffene Nächte.

Vater war auf der Flucht, er ging in die Felder. Das sind Felder, so an die 3 Kilometer lang und breit, ukrainische Felder der Sowchosen.

Meine Mutter brachte ihm, mit meinem Bruder, nachts Essen in die Maisfelder. Lange ging das nicht, das war klar. Er musste schließlich wieder ins Warme, ging zu einem Polizisten, den er früher mal bestochen hatte. Der konnte nichts melden, dachte er.

Aber irgendwie kam der NKWD doch dahinter und sie machten wieder Hausdurchsuchung, nachts. Meine Mutter sagte ihnen: Ich weiß nicht, wo mein Mann ist, dieses Schwein hat sich nicht mehr gemeldet. Sie glaubten es nicht.

Am Morgen wurde der größte Teil der Einwohner von Romansdorf festgenommen, wen sie eben gerade erwischten. Die  Kinder kamen auf einen Wagen, Männer auf den anderen, Frauen auf den nächsten. Die Fenster der Häuser wurden zugenagelt, den Frauen wurden die Haare abgeschnitten.

Meine Mutter sagte: „Meine Haare lass ich nicht, Ihr habt mir Vater und Mutter genommen, nicht die Haare“. Sie durfte die Haare behalten, aber sie sagten ihr: 25 Jahre Sibirien, mindestens.

Sie hatten die Blanko-Papiere gefunden.

Vater wurde nun gesucht, er wurde gefasst, kam ins Gefängnis. 25 Jahre Sibirien mindestens. Verhöre, eine Pistole wurde ihm vors Gesicht gehalten, Gehirnwäsche. Unterschreib, dann bist du frei. Nein, das machte er nicht. Er wusste: wenn er unterschrieb, wurde er hingerichtet. Für das Todesurteil brauchten sie eine Unterschrift, die Sowjetunion war ein Rechts-Staat.

Von dem Inspektor der örtlichen NKWD, oft bestochen, wurde mein Vater dann gerettet. „Wie bist Du hier hineingeraten“ hat der ihn gefragt. Er datierte Papiere falsch, gegen Geld. In den Papieren stand, dass Vater das Dorf verlassen hatte. Damals brauchte man einen Propust, um das Dorf zu verlassen. Er war nicht da, der Spitzel hatte gelogen.

Vater und die Familie wurden so gerettet, aber alle Möbel waren verkauft, die Pferde, das Haus, alles weg.

Aber sie lebten alle, Vater, Mutter, Eduard und Waldemar.

Der Bruder des Vaters Albert, ein Cousin Gustav, Otto Janke, Karl Minge, wurden verhaftet und hingerichtet. Sie liegen in Shitomir im Massengrab.

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