Nachdem ich beim Übergang vom Tellerwäscher zum Millionär wieder in Berlin gelandet bin, will ich nun ernst machen mit dem Studium und wenigstens eine Vorlesung besuchen. Ich muss eine Seminararbeit schreiben über Heidegger. In jener Zeit gibt es viele Heideggers an der Freien Universität, denn nach dem Mauerbau ist woanders Wichtigeres zu tun und die Philosophen werden knapp.

Einer, den sie woanders nicht wollten, heißt Fink, der Husserl kritisiert der Heidegger kritisiert und der deswegen zu den Kritizisten gehört, die Fink selber kritisiert, denn er ist ein konsequenter Kritizist mit Charakter. Und weil er über Kant nachgedacht hat macht Fink, der auch den kritisiert, aus allem eine Vorlesung, um mir das Denken beizubringen am Vormittag.

Es ist eine spätsommerliche Vorlesung, die man besser an den Wannsee verlegt hätte, wo sich die Frauen in der Sonne sonnen und wenig anhaben, und das wäre wohl im Sinne von Heidegger gewesen, der ja immer zum Wesentlichen wollte.

Aber ich muss nun im Hörsaal 2 des Henry-Ford-Baus sitzen und denken. Vorn steht ein Fink, der redet und redet. Ich schreibe eifrig mit, weil ich diesen Stempel haben muss. In meinem Referat werde ich Fink kritisieren, der Husserl kritisiert, der Heidegger kritisiert und die Kritizisten kritisieren alles, wie ihr Name schon sagt. Ich werde mich auf Aristoteles berufen, der kaum jemanden kritisiert, weil er keine feste Professur an der FU hatte. Meine Kritik ist schon fertig. Ich brauche nur noch die Gedanken.

Ich würde lieber ein Drama schreiben über die langen Fehden der Professoren. Sie sind alle miteinander verfeindet, seit Platon, und alle feuern in den Vorlesungen die dicken Kanonen ab, die erst Jahrhunderte später einschlagen werden.

Ich habe alles fleißig mitgeschrieben, obwohl ich damals noch gar nicht wusste, dass ich  irgendwann Material für meine Sammlung von Unsinns-Lyrik brauchen würde.

Wir sitzen im Hörsaal, vielleicht 10 oder 12 Studenten, alle vorn beim Professor, damit er die Wahrheit nicht so brüllen muss. Wir wollen nun denken lernen.

Die erste Kanone eröffnet. Husserls Lehre wurde verunreinigt durch kritizistische Zutaten von Neu-Kantianern.  Das kann nicht unwidersprochen bleiben! Fink, Husserl-Schüler, beweist, dass alles, was gegeneinander gesagt wurde, nicht stimmt. Es war nämlich alles ganz anders: Der Phänomenologie als solcher, meinem Studiengebiet, wird vorgeworfen „intuitionistisch-ontologische Aberration von einem kritischen Grundgedanken, was sie entfernt vom Kritizismus“, so die Kritiker.

Kann gar nicht sein, sagt Fink, weil sie „nie bei ihm war“, sagt Fink mit einem tiefen Wahrheits-Rülpser, Hoppla, Entschuldigung. Ich schreibe das auf, bin aber nicht sicher, ob die Phänomenologie das auch wusste oder nur so vor sich hinkritisiert hatte?

Der  Mensch an sich

Nehmen wir doch mal einen Menschen, sagt Fink. Wenn die Phänomenologie eine Gestalt sieht, kann sie durchaus zur Einsicht kommen, dass dies ein Mensch ist, sagt Fink. Ganz anders der Kritizist. Wenn der eine Gestalt sieht, kann er erst urteilen, wenn er zurückgeht auf eine Beziehung, von der aus die Gestalt sinnvoll als Mensch erscheint, sagt der Kritizist. Die Beziehung kann er durch eine logische Konstruktion gewinnen, jedenfalls reicht einfaches Anschauen nicht. Man braucht eine höhere Gehalts-Klasse.

Das richtige Denken

Was die Phänomenologen da machen, hat katastrophale Auswirkungen, sagen die Kritizisten. Danach, so kritisieren sie die Phänomenologen, kann ein Phänomenologe die Gestalt höchstens beschreiben, nicht aber zum Menschen erklären. Denn: „Sie kennt keinen Wert für den Begriff Mensch“, kritisiert Fink.

„Weil ich nicht über das Gegebene hinauskann, über die Figur, so ist „Mensch“, was ich ideierend abstrahiere“, sagt Fink. Was die Kritizisten da machen ist nun überhaupt nichts, sagt Fink, nicht mal Wissenschaft ist das, die könnten höchstens Pförtner werden an der FU, weil sie keinen Titel haben.

Ich lasse zwei Seiten aus und nehme ein Pfefferminz gegen den Mundgeruch.

Die Phänomenologen sind auch nicht besser. Fink deckt auf, dass der Kritizismus ebenfalls kritikwürdig ist, weil, sagt Fink, der unterscheidet nämlich real Seiendes, das ich vor-ontologisch erkennen kann, den geltenden Sinn, der nicht ist, wenn Sie verstehen, was ich meine, und für den Phänomenologen ein „Wesen“ ist, was sich zeigen kann als das Seiende, während diese Stümper von der Phänomenologie ja gar nicht über die bloße Beschreibung hinauskommen, wenn sie verstehen, was ich meine.

Natürlich hat das den Heidegger schwer getroffen. Er ändert sofort seine Philosophie zu einem transzendentalen Subjektivismus, was Fink kritisiert, wie es sich gehört für einen Kritizisten, „doch bleibt von den alten Unarten soviel, dass auch der neue Ansatz verdorben ist“, sagt er und ich schreibe eifrig mit. Im Gegensatz zu zwei Studenten links von mir, die Schiffe versenken.

Fink  stellt dann alles richtig. „Nicht um den Primat der Anschauung als Erkenntnis-Vermögen, sondern um den Primat der Anschaulichkeit geht es.“  „Anschaulichkeit ist intentional, wenn ich die intentionale Bezogenheit des Bewusstseins, auf den intentionalen Gegenstand untersuche, komme ich in die Sinnhorizonte der Intentionalität und damit über den Dogmatismus heraus.“ “ Wenn also die Kritiker den Akzent von eidetisch-deskriptiv auf intentional-deskriptiv verlegt hätten, wäre ihnen aufgegangen, dass schon in den Logischen Untersuchungen der Ansatz vorhanden ist, den Dogmatismus zu überwinden.“

Sechs Plätze links sitzt eine Schwarzhaarige mit Bubi-Kopf und einem hosen-ausziehenden Lächeln. Wir sehen uns an und ich stelle mir vor, wie ich ihr den Pulli runter streife und, schwupp, den BH-Verschluss öffne, um dann die Brüste in den Sinn-Horizont der Intentionalität zu rücken. Sie schaut mich auch an. Sie hat alles gleich verstanden und zeigt mir ihre langen Beine. Wenn das Heidegger wüsste?!

Aber wir sitzen zu weit vorn, um ohne Erlaubnis des Professors rumzufummeln und die Brüste könnte ich auch ontologisch gar nicht begründen und nach der Vorlesung geht es auch nicht, weil ich schon bei den Heinzelmännchen einen Job habe als Lagerarbeiter, wo das Sinnverwandte in Form von Frisch-Quark in die Plastik-Schachteln gepackt werden muss.

Ich klappe die Augen zu und sie ist sehr beleidigt, richtig sauer, packt die nackten Beine wieder ein und fängt an zu denken, so heißt die Vorlesung schließlich.

Aber da ist noch dieser Eidos

Auch die Lehre vom Eidos ist keine Lehre vom Sehen des Un-Sinnlichen, keine rezeptive Intuition. Ich sehe nicht das menschliche Wesen in der Gestalt. Eidos ist viel mehr. Auf Seite 329 stellt Fink klar: „das Korrelat einer Denkoperation, einer intellektiven Spontaneität. Im denkenden variativen Durchlaufen der Möglichkeitsabwandlungen eines seiner Identität mit sich selbst festgehaltenen Seienden wird das Eidos als Invariante erkennbar“.

Dieser Eidos war mir immer schon verdächtig, den schmeiß ich nachher in den Mülleimer.

Die Fetzen fliegen

Der Kritizismus nun wirft Husserl vor, sein Thema sei die „psychische Immanenz“. Das ist viel zu kurz gesprungen, sagt Fink. Auf Seite 360 verlangt er daher den entscheidenden Sprung  „vom Für-uns-Sein des Seienden in das Für-die-transzendentale-Subjektivität-Sein der Welt“ und das alles, bevor ich in der Kantine einen Kaffee trinken kann.

Und wer hat nun recht? Fink: Die Phänomenologie zu erklären ist unmöglich. Sie ist ja nur zu verstehen im Nachvollzug. So ist der Versuch Finks, den Gegensatz herauszuarbeiten, kein Beweis, sondern ein Hin­weis auf das Grundproblem: Was wollen Phänomenologie und Kritizismus eigentlich und ist die Identifizierung der Begriffe zulässig?

Woher soll ich das wissen?

Auf Seite 370 lässt Fink dann die Katze aus dem Sack: Die Phänomenologie intendiert „die Welt aus dem letzten Grunde ihres Seins her, in allen ihren realen und ideellen Bestimmtheiten begreiflich zu machen. Sie erstrebt absolute Welterkenntnis.“

Ich verschiebe die Welt-Erkenntnis auf Dienstag und überspringe 8 Seiten. Ohne die Welterkenntnis abzuwarten, haben die beiden Schiffe-Versenker ihre Taschen gepackt, sie kennen offenbar das Wesentliche an der Vorlesung: Gleich ist Schluss, denn egal wie sehr die phänomenologischen Probleme drängen, länger als 45 Minuten dürfen sie nicht drängen. Steht im Tarifvertrag.

Also: warum studiere ich Phänomenologie? Fink sagt es mir auf Seite 371. „Das wahre Thema der Phänomenologie ist weder die Welt einerseits, noch eine ihr gegenüber zu stellende Subjektivität andrerseits, sondern das Werden der Welt in der Konstitution der transzendenten Subjektivität.“

So lerne ich denken.

In der Pause esse ich ein Fischbrötchen in der Mensa und trinke meinen Kaffee nach dem alten FU-Motto: der Student geht zu Mensa bis er bricht. Die Schwarzhaarige schaut nicht einmal herüber, so nachtragend ist sie.

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