Als Berliner Journalist war mir der Name des Fotografen-Kollegen Paul Glaser ein Begriff, wenngleich wir uns nie bewusst persönlich begegnet sind. Als mich der Ambulante Hospizdienst des Diakonie-Hospizes Wannsee fragte, ob ich als Ehrenamtlicher die Begleitung Paul Glasers übernehmen wolle, sagte ich deshalb sofort zu. Beim ersten Besuch in seiner Wilmersdorfer Wohnung wurde mir schnell klar, dass er jemanden suchte, der ihm bei der Digitalisierung seines wahrlich umfangreichen Fotoarchivs helfen würde. Das ist nicht meine Stärke. Deshalb befürchtete ich zunächst, dass er diese Begleitung womöglich nicht als ihm dienlich betrachten würde. Nach meinem zweiten Besuch, diesmal im Krankenhaus Waldfriede, war der Eindruck ein ganz anderer: Ein äußerst wacher, lebendig erzählender Paul Glaser berichtete mir aus seinem Leben im politischen Berlin. Wir tauschten gemeinsame Erinnerungen aus, diskutierten Themen der Zeit. Über seine Krankheit wollte er kaum reden, nur jeweils ein kurzer Bericht zur tagesaktuellen gesundheitlichen Lage. Sein Schicksal hatte er vor Augen, ohne dass ihm das die Lust am geistigen Austausch getrübt oder gar genommen hätte. Er bedankte sich sehr für meinen Besuch. Es war mir ebenso eine Freude.
Die zweite Begegnung, noch immer im Krankenhaus Waldfriede, war wieder sehr lebendig, ein angeregtes Gespräch. Wie er da in seinem Bademantel die ganze Stunde lang auf der Bettkante saß, machte er nicht den Eindruck, dass er dem Tod näher war, als er sich möglicherweise eingestehen wollte. Jedenfalls drückte er diesen Gedanken wohl eher weg. Auf dem Tisch neben dem Bett stand aufgeklappt sein Laptop. Er arbeite ja noch, wolle noch Vieles aufschreiben, sagte er. Viel lieber als von Krankheit erzählte er aus seinem Leben, von seinem Geburtsort in der Ukraine, von seiner Freundschaft mit dem Berliner SPD-Urgestein Harry Ristock, davon, wie er Marianne von Weizsäcker beim Wahlkampf zugunsten ihres Mannes Richard begleitet habe. Unser gemeinsames Schicksal, Witwer zu sein, war ein Thema, über dem sein Erzählfluss eher stockte. Er sei ja beruflich viel unterwegs gewesen, worunter seine Frau sehr gelitten habe. Ein Thema, über das er nicht reden wollte, schien mir – wie überhaupt über sehr Persönliches, Gedanken, Befürchtungen. Das gilt es bei diesen Begleitungen von Menschen am Ende von deren Leben immer zu respektieren. Menschen sind unterschiedlich: Manche erzählen einem Dinge, die sie niemand anderem offenbaren würden, Dinge, die noch ausgesprochen, wenn nicht geklärt werden sollen. Andere wollen ihren Mitmenschen mit ihrem Schicksal nicht zur Last fallen, vor allem auch nicht sich selbst, machen also Belastendes eher mit sich selbst aus. Bei allem lebendigen Erzählen spürte ich doch, wann seine Kräfte nachließen und es Zeit war zu gehen.
So gern Paul Glaser sich auch mit mir austauschte, beim nächsten Besuch bei ihm zu Hause war deutlich zu spüren, wie es ihn anstrengte, aufrecht und aufmerksam auf seiner Couch zu sitzen. Er müsse sich hinlegen. Aber er bot mir noch an, mir einen Negativ-Scanner zum Ausprobieren zur Verfügung zu stellen. Zwei Tage später meldete er den zuvor im Keller gelagerten zum Abholen bereit. Als ich diesen dann wenige Tage später zurückbrachte, waren seine Kräfte noch mehr geschwunden. Als ich mich nach einer kurzen Begegnung verabschiedete, stand er in seinem Flur, gekrümmt, auf seinen Stock gestützt, mir nachschauend als wolle er sagen, es sei zweifelhaft, ob wir uns noch einmal wiedersehen würden. Ein Blick, den ich nicht vergessen werde. Es war mir unangenehm, ihn so stehen, nein, ihn buchstäblich so zurücklassen zu müssen.
Wir telefonierten noch mehrmals kurz, Besuche waren nicht mehr möglich, er solle sich ausruhen, habe die Palliativ-Ärztin ihm geraten. Beine hochlegen. Aber: Er hoffte, er wünschte sich sehr, wir beide könnten bei besserem Wetter mit dem Rollstuhl in die Natur gehen. „Das wäre dann ein Abschied“, waren seine Worte. Dazu kam es nicht mehr. Ulrich Horb, der Journalisten-Kollege, den ich aus ersten journalistischen Erfahrungen in den siebziger Jahren beim Landesjugendring Berlin kannte, informierte mich schließlich, dass Paul Glaser auf der Intensivstation im Auguste-Viktoria-Krankenhaus liege, dann auf die Normalstation verlegt wurde. Es war jedoch die Corona-Isolierstation. Ich hatte Paul Glaser versprochen: Wenn Ihr Leben zu Ende geht, müssen Sie nicht allein sein. Wenn ich kann, bin ich bei ihnen.“ Ich wollte ihn eigentlich unbedingt dort besuchen. Aber das Infektionsrisiko konnte ich aus verschiedenen Gründen nicht eingehen. Ich bedaure das sehr.
So ging Paul Glasers Leben zu Ende wie viele in diesen Tagen. Nicht an, sondern mit Corona, jedoch allein, isoliert, in einem Krankenhaus. Nicht dort, wo er es vielleicht erhofft hatte und wie es sich die meisten Menschen wünschen, in seinem Zuhause. Ich bin dennoch sehr froh, dass ich Paul Glaser kennenlernen durfte. Es waren wenige, aber intensive Begegnungen, die mir sehr viel gegeben haben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er mir ein Beispiel dafür gab, wie man dieses schwere Schicksal einer solchen lebensbedrohlichen Erkrankung ertragen kann und dadurch uns, die wir weiterleben dürfen, Mut zu machen und Zuversicht zu geben für dieses, unser Leben. Und nicht zuletzt hat mich diese Erfahrung bestärkt, diese ehrenamtliche Arbeit in der Sterbebegleitung fortzusetzen. Danke, Paul Glaser!
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