1964 – Moralische Geschichten: Karla fährt heiraten

Die Reise nach Schweden

Es ist Sommer in Berlin, Zeit für den Wechsel der Freundin und Urlaub, den ich in Schweden machen will. Ich kaufe ein Heft mit Papp-Einband, ein neues Tagebuch für diese Reise.

Ich will als Tellerwäscher arbeiten, kann dann frei wohnen, frei essen, nach 8 Stunden Dienst habe ich frei für Urlaub am Meer. Ich will nach Strömstad, ein kleiner Ort an der Westküste, nicht weit von Norwegen, Schärengebiet.

Ich habe diesmal sogar einen Grund für die Reise. Günter Zint hat sich die Kniescheibe gebrochen und weil er nicht versichert ist, kann er in Deutschland nicht ins Krankenhaus zum Operieren. Kann steif bleiben, das Knie, das Bein, da siehste aber komisch aus als 24-jähriger Hinkefuß.

Wir haben deswegen beschlossen, zu einem schwedischen Krankenhaus zu fahren. Da reparieren sie Knochen und fragen dann erst nach den Stempeln der Versicherung.
Es soll eine poetische Reise werden nach all dem Ärger in Berlin. Ich will Gedichte schreiben und mit den Möwen diskutieren, die Schweden angucken, ein seltsames Volk ohne große Probleme. Ich will dort auch entscheiden, ob ich das Studium schmeiße, Philosophie, die alte Probleme immer wiederkäut. Ich will was Neues, irgendetwas Geniales will ich werden, vielleicht Sachbearbeiter für göttliche Visions-Schulungs-Kurse oder utopischer Unsinns-Poesie.

Ich fange das Tagebuch gleich mal an mit einem Gedicht, ein wenig Tiefsinn kann nicht schaden.

wer eine Reise tut
Vergnügungs-Reise
Reise ins Blaue
Reisefieber
Reise ins Jenseits
letzte Reise
Fahrt ohne Wiederkehr
Himmelfahrt
Fahrt in den Tellerwäscher-Himmel
Höllenfahrt
Kniescheibenoperationsreise
Die Frauen warten

Wir reparieren ein Auto

Wir können losfahren, wenn das Auto fährt. Wir kaufen eins auf dem Schrottplatz, einen VW-Bus ohne TÜV.

Keilriemen und Auspuff müssen neu gemacht werden, die Zylinderkopf-Dichtungen neu, die Kreuzgelenke ausgeschlagen, eben ein Auto vom Schrott.
Die Schweller sind verrostet, aber Schweißen können wir nicht und deswegen modellieren wir aus Spachtelmasse schöne Schweller und hoffen, dass beim TÜV an dem Tag gerade die Bilden Dienst haben. Damit wir den Bus fahren dürfen in Schweden muss er umgebaut werden zu einem PKW, so die Vorschrift. Also schneiden wir ein Loch in die Seitenwand und passen Plexiglas ein. Nun ist der Bus ein PKW.

Beim ersten Mal haben die TÜV-Leute nur mit einem halben Auge hingeschaut und abgelehnt, nicht mal gelacht haben sie. Diesmal muss es klappen.

Wir haben Routine beim Reparieren von irreparablen Autos. Wir bauen das Ding auseinander auf der Straße in Kreuzberg. Ringsum liegen VW-Eingeweide. die alle irgendwie in den Karren sollen.

Wir müssen aufpassen, dass beim Zusammenbau nicht zu viele Teile übrigbleiben, sagt Zint und jammert ein wenig.
Das Bein muss geschient werden. Hier ist ein Kleiderbügel. Wir zerreißen ein Hemd, wickeln es um Bein und Kleiderbügel, schon ist das Bein geschient und wir haben den Schienen-Arzt gespart. Sind wir nicht clever? Kannste damit Gas geben, frage ich. Wird schon gehen, sagt Zint.

Wo können wir Reifen klauen?

Mir stinkt Berlin. Heute ist wieder einmal Sonntag. Alles ist feierlich, überall ist Politik. Wer redet da? Ulbricht. Und wie heißt der andere? Na gut, darauf trinken wir. Auf die Rettung der Welt, Prost Kniescheibe!

Mein Bein tut weh.
Kannst du mir eine Mark leihen?
Schau dir mal den Zahnriemen an.
Wir müssen zur Behörde.
Sie heißen? Wie heißen Sie? fragt die Behörde.
Hinter dem Schalter ist ein Mann, der zu denken gibt. Der Mann zeigt, dass die Geschichte eine Geschichte der großen Männer ist, die hinter dem Schalter im KfZ-Amt in der Jüterboger Straße stempeln oder auch nicht.
Wie heißen Sie?

Ich gehe Blut spenden, um ein paar Schrippen zu kaufen. Ab und zu muss ich essen.

Willst Du nicht eine Kniescheibe verkaufen? Dann können wir sofort nach Schweden.
Mein Bein tut weh. Kannst du mir eine Mark leihen?

In Berlin ist Alltag.
Wir frühstücken, Schrippe mit Marmelade und Rundfunk. Sie sind an der Grenze erschossen worden, haste gehört? Ist es nicht schrecklich? Sie haben ein Liebespaar erschossen an der Grenze. Wie viele Liebespaare sind noch übrig in der DDR? Oh, wir haben genug Munition, sagt die Arbeiterklasse. Der DDR-Grenzer bekommt einen Orden, weil er was für die Welt-Revolution getan hat, Peng!

Im Westen haben wir dafür Vietnam. Kennst du diese Ami-Kneipe in der Knesebeckstraße? Kleine Bar, Kaufhaus-Models und alles voller Amis, nur Platz zum Stehen und alles dampft vor Sex.

Die Amerikaner fliegen die jungen Soldaten nach Berlin, zeigen ihnen die Mauer, damit sie wissen, wofür sie kämpfen in Vietnam. Sie kommen aus Unter-Virginia oder Ober-Arizona, sie verteidigen meine Freiheit. Wo hab‘ ich die schon wieder rum liegen lassen?

Sie kommen aus Amerika? You’re coming from America? Und sie verteidigen meine Freiheit? Ist die Mauer nicht schrecklich? Oh ja, die Mauer ist schrecklich. Noch zwei Pils.
Wo liegt Vietnam? Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht verscheißern. Was heißt verscheißern auf Amerikanisch?
Haben Sie mal ein Stück Napalm für mich?

Ich bin schon betrunken. Es hat auch Vorteile, wenn man nichts zum Essen hat, man wird schnell betrunken. Die Soldaten vertragen mehr. Morgen fliegen sie in den Krieg und das soll man ja auch nicht nüchtern machen, hat der Friedens-Präsident gesagt. er heißt Lyndon B. Johnson, der Retter, und die Demonstranten rufen: „Hej, Hej, Hej! LBJ. How many kids did you kill today?!

Dann reparieren wir wieder. Die Lichtmaschine maschint kein Licht, der Keilriemen weiß nicht, wozu er da ist, die Brems-Trommel muss mit Sandpapier glatt gemacht werden, sonst trommelt sie nur und bremst nicht. Es ist viel zu tun.

Mein Bein tut weh. Hast du mal ne Versicherung für mich?

Ihr fahrt nach Schweden?
Ah, Sie sind von der Kriminalpolizei? Sie sehen gar nicht so aus.
Ja, wir reparieren schon eine Woche.
Dies ist ein freies Land, da kann jeder so arm sein wie er will.
Ja, ich schlafe im Auto.
Was soll der Polizist in seinen Bericht schreiben? Was ist das für ein Paragraf? Na, wir werden schon einen finden.

Wir schneiden ein Loch in den Bus, füllen es mit Plexiglas.
Noch die Lichtmaschine einbauen, dann noch ein Versteck für den Cognac. Wir haben uns entschlossen, mehrere Benzin-Kanister voller Weinbrand mitzunehmen nach Schweden. Dafür kriegt man dort fast alles: Essen, Frauen und Sonnenbrand vom Nichtstun.

Willst Du etwas Cola? Morgen geht es zum TÜV.
Kannst du mir mal den 16-er Schlüssel geben.
Sie kriegt ein Kind.
Von mir ist es nicht.
Von mir auch nicht.

Es wird Zeit, dass wir losfahren.

weiterlesen: 1964, Strömstad
Strömstad 1964/65: Fia
Strömstad 1965: Kristin und Bo

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