Wie soll man eine Lebensgeschichte über eine kleine Bauernfamilie erzählen, die keine Tagebücher geschrieben hat, keine Briefe, die Poesie-Alben nicht kannte, über die es keine Gerichtsakten gibt, keine schriftliche Quellen? Sie hat ihre persönlichen Geschichten immer nur von Mund zu Mund weitererzählt und nun, wo fast alle tot sind, ist niemand mehr da, der sich erinnern kann.
Und dabei ist es ja nicht so, dass es nichts zu erzählen gäbe.
Mehr als 300 Jahre hat diese Familie Kriege mitgemacht, Revolutionen, Seuchen und Hungersnöte, hat sie unter bekloppten Fürsten gelitten oder Leuten, die die Welt retten wollten.
Sie hat den ganzen europäischen Gruselfilm von Mord und Totschlag erlebt und, wenn es sein musste, ist sie auch 1000 Kilometer weitergezogen nach Osten, um in Ruhe leben zu können und so zu beten, wie sie es wollten. Ja, und je mehr ich gesucht habe in den wenigen Unterlagen, desto mehr wurde mir klar: diese kleine Familiengeschichte ist ein Spiegelbild der großen Ereignisse, wenn auch aus der Sicht der Opfer, die man ja „Volk“ nennt.
Als Hinweise gibt es dürre Eintragungen in den Kirchenbüchern über Geburt, Heirat und Tod, drei Zeilen für ein ganzes Leben. Vielleicht sind auch noch Steuerakten vorhanden, Gerichtsakten, Soldatenlisten. Und natürlich die Schilderungen der Zeitzeugen über das Bauernleben, die tägliche Arbeit, die Kriege. Keine 20 Jahre ohne einen Krieg bis in unsere Zeit hinein. Die Familie war immer dabei, musste es sein, es blieb keine Wahl.
Und was in Erinnerung geblieben ist, sind aber nicht so sehr die Tatsachen, die sind dürftig, sondern es ist die Stimmung, die das Leben der Menschen bestimmt hat, vielleicht zusammengefasst in einem Grundsatz der Alt-Lutheraner: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Und wenn du auf die Nase gefallen bist, dann steh wieder auf und geh weiter! Und wenn dir einer auf die linke Backe haut, dann hau ihm auf die rechte. Das ist das Grundgesetz des Überlebens gewesen für Kolonisten.
Die ersten sichereren Spuren der Familie und ihrer Seitenlinien habe ich um 1700 gefunden, in Kirchenbüchern von Scharnikow, einem Gebiet nördlich von Posen im heutigen Polen. Da siedeln deutsche, niederländische landlose Bauern in den Sumpf- und Überschwemmungsgebieten an den Flüssen Netze und Warthe, rodeten Urwälder, bauten Dämme gegen die Hochwasser. Europa war immer noch verwüstet vom Dreißigjährigen Krieg, von Hunger und feudalem Wirrwarr. Für die neuen Siedler waren die Seuchen eine Chance. Land war billig, Bauern selten und gesucht. Die Fürsten mussten ihnen schon einiges bieten, wenn sie siedeln sollten, politische Rechte zum Beispiel, Bürgerrechte, Befreiung vom Wehrdienst, Steuerfreiheit für eine Weile.
Sie brauchen die Bauern, die Zeiten haben sich auch geändert für die Fürsten. Es ist jetzt Konkurrenz unter ihnen. Nicht mehr Gott hat die Gesellschaft festgefügt, sondern es sind jetzt Soldaten, Waren zum Exportieren, Geld, politische Macht, eben Politik.
Die Zeit der religiösen Staaten geht zu Ende, die weltlichen kommen, der frühe Kapitalismus lässt sich schon ahnen in vielen Kleinigkeiten.
Dabei ist es eine öde Gegend, flach, sandig oder sumpfig, voll Urwald und Überschwemmungen, wilder Osten, ohne richtigen Staat, ohne Fördermittel im 5-Jahres-Plan. Da ist dein Land, Bauer, mach was draus! Kapitalisten sind gefragt oder Protestanten der Lutherrichtung, die Sünde nicht kennen, gegen die man nichts machen kann. Man kann!
Im Jahre 1711 gehört ein Michael Steinke der Schneiderzunft an, was ja heißt, dass die Familie schon länger dort wohnt, zu den Mächtigen gehört, denn die Zünfte waren Teil des Regierungssystems, er wohnt in einem Ort der heißt Strosewo Hauland.
Ein Martin Steinke ist Tuchmacher, so steht es im Kirchenbuch von Kolmar und ein Martin Steinke ist „Eigentümer“, er hat also Grund und Boden in der Stadt, ein Haus, lässt Michael Glaser eine Tochter taufen in einem Ort, der Putzig heißt.
Er liegt an der Netze. Und auch die Familien Janke und Steinke, mütterliche Linie, sind schon da. Sie werden alle zusammenbleiben bis 1945.
Das Gerüst ist da, um die Familiengeschichte aufzubauen.
Und auch das tägliche Leben ist gut dokumentiert. Seit Luther die deutsche Sprache bereitgestellt hat gibt es viel Schriftliches, viele Berichte von einfachen Soldaten. Das Volk hat eine Stimme, muss nicht den Vormund, die Kirche, für sich reden lassen.
Da ist also genug Stoff, um Geschichten zu erzählen.