1979 in Moskau: Paul Glaser und KGB-Begleiter. Foto privat

1979 in Moskau: Paul Glaser (hinten) und KGB-Begleiter. Foto privat

Die Reise nach Moskau

Im Jahre 1979 wurde ich eingeladen zu einer Reise nach Moskau und einige hundert Kilometer weiter. Genosse Philipow, Direktor von Intourist Europa, hatte die Reise organisiert. Einige Geschäftsleute und ich als Fotograf und Journalist. Die Geschäftsleute wollten mal schauen, ob man nicht hinter Moskau ein Ski-Langlauf-Zentrum bauen könnte für westliche Touristen.

Eigentlich sollte ein Journalist der „Wahrheit“, Zeitung der West-Berliner SED, mitfliegen. „Aber dann kann man nicht offen reden“, meinte Philipow. „Und pack den Koffer voll mit armenischen Cognac“, sagte er, „dafür kriegt man in Moskau alles. Und Marlboro.“

Wir wohnten im Hotel „Intourist“, nicht weit vom Roten Platz entfernt. Jeder von uns erhielt zwei KGB-Leute, damit wir uns nicht verlaufen konnten. Sie lösten sich alle 6 Stunden ab, außer abends, dann machten beide Dienst bis spät in die Nacht. Wir tranken meist Weizen-Wodka auf dem Hotel-Zimmer.

Es war also eine normale Journalisten-Reise, eigentlich nicht der Rede wert. Wir schauten uns das Kaufhaus Gum an und die Kreml-Mauer und gingen essen in einem Restaurant am Arbet, wo für uns immer eine ruhige Ecke reserviert war.

Bemerkenswert an der Reise waren die Tischreden unserer Gesprächspartner und die Witze der KGB-Menschen nach den ersten 5 Hundertgramm-Gläsern Wodka.

Erst viel später im Nachhinein verstand ich die vielen kleinen Zeichen zu lesen für den Niedergang der Sowjetunion, vor allem die Gespräche und Witze der KGB-Leute, die ganz offensichtlich nicht mehr an den Sieg der Welt-Revolution glaubten, nicht mal an das Überleben ihres Staates.

Einige dieser Witze habe ich mir notiert und ich möchte, zugespitzt auf die politische Aussage, davon berichten.

 

Die Geschichte vom Wolf und dem Hasen

Es gab damals eine Zeichentrick-Serie im russischen Fernsehen, in der ein Wolf den Hasen jagte, immer vergeblich. Der war schnell und schlau und der Wolf doof wie ein ZK-Funktionär. Und der Hase entkam immer.

Aber einmal, so erzählten die KGBler, erwischte der Wolf den Hasen dennoch. Er brachte ihn nach Hause und sagte seiner Frau: „Da machst du einen schönen Braten.“

„Na, hör mal“, sagte die Frau,  „womit soll ich den Hasen denn braten?“ „Mit Butter, natürlich“, sagte der Wolf. „Butter? Hast du Butter gesagt? Ich weiß gar nicht, wie lange es her ist, dass es im Laden Butter gab.“ „Na dann nimm eben Butterschmalz“, sagte der Wolf. „Butterschmalz? Hast du Butterschmalz gesagt? Das muss es wohl im letzten Jahrtausend gegeben haben“. „Na, verdammt  noch mal: dann nimm Margarine.“ „Oh, die Margarine! Wo ist die Margarine?“

Da schreit der Wolf voller Wut: Dann lass den verdammten Hasen laufen.“

Und der läuft sofort los und klatscht in die Hände: „Lang lebe der Sozialismus, lang lebe der Sozialismus.“

Prost! Noch mal 100 Gramm? Klar, Towaritsch!

Die Wirklichkeit

Philpow nimmt mich mit zu seiner Mutter. Ich soll Moskauer Alltag erleben. Das war natürlich streng verboten. Sie wohnt in einem der vielen Moskauer Marzahns und sie serviert uns Schweinekamm, entschuldigt sich, dass er ein wenig zäh ist. Als sie in die Küche geht, sagt Philipow: „Sie hat 3 Stunden gesucht, bis sie das Stück Fleisch hatte…“

Wie lesen Moskauer Zeitung?

Anfrage an Radio Jeriwan:  Stimmt es, dass der Genosse Kusminsk in Moskau eine Wolga-Limousine in der Lotterie gewonnen hat? Antwort von Radio Jeriwan. Im Prinzip: Ja. Aber es war nicht der Genosse Kusminsk, sondern der Genosse Popow. Es war auch nicht in Moskau, sondern in Jekaterinislaw. Es war auch keine Wolga-Limousine, sondern ein Fahrrad. Und das hat er nicht gewonnen, sondern es ist ihm gestohlen worden…“

Dialektik

Zwischen einem Amerikaner und einem Russen gibt es einen Wettlauf über 100 Meter. Der Amerikaner gewinnt. Steht am nächsten Tag in der Prawda: Gestern fand ein Wettkampf statt zwischen einem amerikanischen Imperialisten und einem progressiven Sowjet-Bürger. Der Sowjetbürger erreichte einen ehrenvollen 2. Platz, während der Imperialist nur Vorletzter wurde.

Kaukasier

Sie haben den Ruf sehr findig zu sein, legal oder illegal, können alles besorgen, alles regeln, immer nach dem Motto: Wenn etwas verboten ist, heißt das nur: Es ist etwas teurer.

Intourist ist einem dieser Kaukasier zu Dank verpflichtet und er hat 2 Wünsche frei. Der erste, sagt der Kaukasier: ich möchte eine Wolga-Limousine, aber nicht 5 Jahre warten. Intourist: Wir sind fast allmächtig, aber den Wunsch können wir nicht erfüllen.

Der zweite, sagt der Kaukasier: ich möchte ins Lenin-Mausoleum am Roten Platz, aber nicht 2 Stunden anstehen. Intourist: Tut uns leid. Lenin ist ein Heiligtum, da können wir nichts machen.

Der Kaukasier: Na, gut! Dann mach ich das auf meine Art. Nach einiger Zeit treffen sie sich wieder und Intourist fragt: Na, wie ist es gegangen? „Normal,“ sagt der Kaukasier. „Ich bin zum Genossen General-Direktor der Wolga-Werke gegangen und hab ihm gesagt: Na, wie ist es: einen  Wolga für mich und einer für dich? War schon gemacht.“

Intourist: „Ja, wir wissen: ohne Bestechung läuft nichts. Aber wie hast du das mit dem Lenin-Mausoleum gemacht?“

Der Kaukasier: „Das war ganz einfach. Ich bin mit einem Karton Wodka hintenrum gegangen, wo die Arbeiter des Mausoleums sind. Und als der Karton leer war, hat der Brigade-Leiter gefragt: Nu, was  iss nu? Willste, äh …  willste nun reingehen oder sollen wir ihn dir rausbringen?“

Das Gewerkschafts-Hotel

Einige Hundert Kilometer weiter nach Osten war für unsere Delegation ein Platz reserviert. Wir allein in einem Saal, der für 500 Gewerkschafter gedacht war. Das gute an dem Saal war die Bar, laut, sehr voll. Der Barkeeper hatte einen rasierten Schädel, eine Weste im Al-Capone-Stil und einen Schnauzer wie Dschingis Khan. Er spielte nur amerikanische Pop-Musik, die er mitgeschnitten hatte bei Radio Free Europe. Er machte herrliche Champanskoje-Cocktails und schickte einige sehr junge und dralle Gewerkschafterinnen an unseren Tisch, die ganz nach der westlichen Mode gekleidet waren. Unten kurzer Rock, darunter Strapse und oben fast nicht, wie es so üblich war bei den emanzipierten Gewerkschaftern.

Ich bestellte eine Runde Cocktails und zahlte mit einem 100-Rubel-Schein. Hej, Junge, sagte einer der KGB-Leute, den Schein hast du geschmuggelt. Touristen kriegen offiziell keine Scheine grösser als 10 Rubel. Es gab eine 10-Sekunden-Pause der Stille bei dieser schweren Beschuldigung eines Devisen-Vergehens. Ich sagte: Na, wenn das so ist, dann bestell ich noch eine Runde. Ringsum ein großes Gelächter und der Bar-Keeper sagte: „Das geht auf die Gewerkschaft“ und es gab wieder ein großes Gelächter.

Spät in der Nacht dann klopfte es an meiner Zimmer-Tür und zwei kräftige Jungs um die 25 herum stürzten herein. Sie sagten kein Wort und zogen meine dralle Gewerkschafterin aus dem Bett, nackt wie sie war, und nahmen sie mit. Da hatte ich wohl irgendeine rote Linie überschritten.

Drei Briefe

Bei Susdal, Richtung Ural, gab es ein Abendessen mit einem Hotel-Direktor. Er war der einzige im Rayon, der keinen Lenin-Oden bekommen hatte und deswegen sehr beliebt bei der Bevölkerung war. Die KGB-Leute sprachen voller Hochachtung von ihm. Er hatte einfach einige LKW verkauft, die das Hotel nicht brauchte und von dem Geld die Renovierungen bezahlt, alles ohne Plan.

Und es gab noch eine lange Liste von anti-sowjetischen Maßnahmen, die alle sehr erfolgreich waren.

Wie üblich hielt der Direktor eine Tischrede. Die ging so: „Mein geehrter Nachfolger“, sagte der alte Direktor, der gerade mit Schimpf und Schande abgelöst worden war. „Mein geehrter Nachfolger. Ich überreiche dir drei Briefe. Die sollst du öffnen: den ersten nach einem Jahr, den zweiten nach dem zweiten und den letzten nach dem dritten Jahr.“

Der neue Direktor öffnete nach einem Jahr den Brief und es stand drin: „Wir konnten leider den Plan nicht erfüllen, weil der Vorgänger so viel Mist gemacht hat.“

Nach dem zweiten Jahr stand im Brief: „Trotz aller Anstrengungen der Werktätigen konnten wir den Plan nicht erfüllen, weil der Winter hart war und die sowjetfeindliche Propaganda doch Wirkung gezeigt hat.“

Nach dem dritten Jahr stand in dem Brief: „Schreib drei Briefe!“

Niemand lachte.

Der Plan muss stimmen

Bei der Einreise musste jeder Tourist ein Formular ausfüllen. Ein Punkt war: wieviel Devisen hat der Besucher mitgebracht? Bei der Ausreise musste der Besucher dann angeben, wie viele Devisen er noch hatte. Das war die sowjetische Form der einfachen Buchführung. Nun hatte einer aus unserer Delegation das Einreise-Formular verschusselt.

Der Zollbeamte musste also ein Devisen-Vergehen feststellen, so war die Vorschrift. Aber eine Vorschrift ist ja nicht alles. Das sind, so überlegte der Beamte, sicher nicht normale Touristen, sie haben jeder 2 KGB-Leute. Da muss ich einen langen Bericht schreiben, womöglich werde ich einbestellt beim Vorgesetzten und das ganze Wochenende ist futsch. Da musste es doch eine andere Lösung geben, eine plangerechte sowjetische Lösung. Er beriet mit den KGB-Leuten und sagte dann: Wissen Sie, füllen Sie das Einreise-Formular einfach noch einmal aus.

So war allen recht getan. Die Vorschriften wurden eingehalten. Philipow meinte, dass auf diese Art fast jeder Plan erfüllt werden konnte.

Der Flug

Wir flogen in einer Iljuschin 62 zurück, in der VIP-Klasse. Sie war abgetrennt von der Volks-Klasse, in der nur DDR-Bürger saßen, durch eine Art Dusch-Vorhang. So war das Geschehen der Promis auch allen Bürgern ersichtlich und transparent.

Wir hatten, anders als die Arbeiter-Klasse, kleine Tische am Sessel zum Abstellen der Wodka-Gläser und schon vor dem Start kam die erste Runde.

Später setzte sich auch der Pilot zu uns, danach auch der Co-Pilot. Nas Darowje, Towaritsch! Und einer stimmte dann Kalinka an und die Stewardess brachte noch eine Runde 100-Gramm.

Als wir in Schönefeld landeten war es erst Mitternacht, viel zu früh zum Schlafen und Philipow kannte da in Karlshorst eine Kneipe nur für Russen und deutsche Frauen.

Als wir dann in der Früh aus dem Lokal geworfen wurden, kamen die Russen auf die Idee, mich im Kofferraum über die DDR-Grenze zu schmuggeln. „Wir werden nicht kontrolliert“, sagte Philipow. Aber irgendeiner von uns hatte noch wodka-freie Gehirnzellen. Er sagte: Er fehlt dann auf der Liste und sie starten eine Such-Aktion, wo der Glaser geblieben ist.

So fuhren wir über die Heine-Straße nach West-Berlin. Der DDR-Grenzer wurde eingenebelt von einer Wodka-Wolke, die aber sofort verschwand als er die sowjetischen Pässe sah und wir konnten ohne Kontrolle durch.

Ich stellte später fest, dass der Sozialismus hintenrum doch gesiegt hat. Fast alle meine Filme waren schwarz, wohl von der Zollkontrolle mit starken Röntgenstrahlen. Aber die Fotos einer Saufrunde mit den KGB-Leuten waren brauchbar.

 

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